Kapitel 5: Stumme Hilfeschreie
Das Verhalten von Aaron
änderte sich auch in den folgenden Tagen nicht, sobald irgendwer in den Pausen versuchte
über Homosexuelle und ihre Stellung in der Gesellschaft zu reden, flippte der
sechzehnjährige Schüler völlig aus, was ihn bei den Mitschülern zusehends
unbeliebter machte. Auch erschien er zweimal in Folge verspätet zum Unterricht
und schlief total übermüdet während der Stunden ein. Wenn die Lehrer ihn darauf
ansprachen, gab er entweder nur ausweichende oder gar keine Antwort darauf. Am
Donnerstag fehlte er dann komplett.
Laurin und Malte ging es von Tag zu Tag besser und letzterer
bekam täglich Besuch von seinem Stiefvater.
„Irgendwie kann ich es nicht ganz glauben, aber zwischen
Werner und mir scheint es wirklich eine positive Wende in unserer Beziehung zu
geben. Wir haben so viel miteinander gesprochen, wie in den letzten vier Jahren
nicht mehr, seit der Stress mit Björn anfing“, sprudelte es nur so aus dem
Rothaarigen heraus, als Johannes und Raphael ihn am frühen Donnerstagnachmittag
im Krankenhaus besuchten.
„Hey, das hört sich doch cool an, aber sei trotz allem
vorsichtig, irgendwie ist uns diese Entwicklung unheimlich“, relativierten Jo
und Raffi ihre zuvor getroffene Aussage.
„Ne schon klar, aber mal ’ne andere Frage, wie läufts in der
Schule so ganz ohne mich?“ Auch Malte war diese Entwicklung nicht ganz geheuer,
obwohl er nicht umhin kam anzumerken, dass sie ihm gefiel und gut tat. Deshalb
versuchte er, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, schnellstmöglich
das Thema zu wechseln.
„Na ja es ist in den Pausen schon echt langweilig ohne dich
und Laurin. Aber momentan haben wir eigentlich kaum Zeit darüber nachzudenken.
Ihr kennt doch unsren Klassensprecher den Aaron Lange oder?“
„Is‘ das nicht der Typ, der immer so groß rum tönt, wie
viele Mädels er schon flachgelegt hat?“, fragte Malte mit einem frechen Grinsen
im Gesicht.
„Genau der ist es. Seit Montag früh dreht der total am
Hamsterrad. Erst wollte er in total abfälligem Ton wissen, wer die Schwulen
B-Junioren sind und seit Dienstag rastet er jedes Mal aus, wenn irgendwer sich
über Homosexuelle unterhalten will. Dann kommt er ständig zu spät zum
Unterricht und heute hat er sogar unentschuldigt komplett blaugemacht.“
„Offen gestanden, wundert mich das nicht bei dem
Elternhaus“, warf Laurin in die Unterhaltung ein. Was der Halbasiate den drei
Freunden jetzt anvertraute, hörte sich selbst für Malte beinah unglaublich an, obwohl
Laurin ihnen mehrfach beteuerte, dass es die Wahrheit ist. „Ihr erinnert euch
doch sicher auch noch daran, dass der farbige Mittelstürmer von TB Berlin bis
vor drei Jahren regelmäßig bei uns Urlaub machte?“
Sicher erinnerten sich die drei B-Junioren daran, auch wenn
sie damals erst zehn Jahre alt waren, als Ronald Bumbuu zum ersten Mal in der
friesischen Kreisstadt auftauchte. „Jedenfalls besuchte er dort regelmäßig
Aarons Vater und der schickte seinen Sohn dann immer zum Spielen zu mir, weil
sie etwas Wichtiges besprechen müssten, wo er bei stören würde.“ Aarons Mutter,
die damals noch als Altenpflegerin in einem Seniorenheim arbeitete, war stets
außer Haus, wenn der ‚Braune Bomber‘ bei den Langes daheim aufkreuzte. Wenn das
wirklich alles stimmte, was Laurin in den folgenden Minuten, auch über den
neuen Lebensgefährten der Mutter erzählte, dann könnte man Aarons‘ seltsames Verhalten
der letzten Tage als eine Art stummen Hilfeschrei werten.
„Bist du dir ganz sicher, dass der Neue ihn schlägt?“
„Ganz sicher Raffi – ich habe mehrmals seinen Rücken gesehen,
wenn er sich zu uns rüber geflüchtet und bei mir übernachtet hat. Und seit zwei
Wochen etwa, kommt er gar nicht mehr zu mir, und wenn wir uns in der Schule
sehen, ignoriert er mich und tut so als würden wir uns nicht kennen.“ Es war
Mitleid, welches in den letzten Sätzen mitschwang. Mitleid für einen Freund,
der sich über lange Zeit sehr verändert hatte und sich nach außen hin immer
mehr einzukapseln schien. Es klang geradeso, als hätte Aaron eine Mauer um sich
herum errichtet. Und diese vermochte nicht einmal mehr Laurin, der dem
Klassensprecher der 10a stets ein guter Freund gewesen war, einzureißen, weil er
ihn nicht mehr an sich ranließ. Raffi und Jo begannen das Ganze erneut zu überdenken.
Gab es einen Zusammenhang zwischen dem, was Mikel und Erik zufällig auf dem Klo
in der Diskothek mitbekommen hatten und den ganzen Ereignissen bei Aaron zu
Hause? Und wenn ja, welchen?
*****
Über Besuchermangel brauchten sich Malte und Laurin
jedenfalls nicht zu beklagen, denn kaum hatten sich die beiden Juniorteamchefs
verabschiedet, als neben Laurins Eltern auch Ergün und Werner Henseleit ins
Krankenzimmer eintraten. Letzterer schien immer noch ein schlechtes Gewissen zu
haben, dass er jetzt schon den vierten Tag in Folge sein Geschäft für ein paar
Stunden vernachlässigte, um Zeit mit seinem Stiefsohn verbringen zu können,
bewies zumindest, dass ein Umdenkprozess bei ihm in Gang gesetzt worden war. Ob
dieser allerdings von Dauer sein würde, konnte im Endeffekt nur die Zeit
zeigen.
*****
Als sie wenig später in der Nordwestbahn saßen, griff Johannes
nach seinem Smartphone um Mikel und Erik anzurufen. Raphael hatte, als sie aus
dem Krankenhaus heraustraten, einen Verdacht geäußert, welchen er teilte.
„Könnt ihr bitte mal auf den ‚Blauen Seiten‘ nachsehen, ob
es da ein Escortprofil gibt, dass zu Aaron passen könnte? Raffi und ich haben
nämlich den Verdacht, dass er seinen Körper verkauft.“
„Klar – machen wir“, versprach Erik, „Falls wir was finden,
schicken wir euch den Link aufs Handy.“
„Aber es bleibt doch trotzdem dabei, 18:00 Uhr am Eingang
zum Weihnachtsmarkt?“, wollte Mikel wissen.
„Auf jeden Fall und denkt an eure Schlittschuhe“, erinnerte
Raphael die angehenden Abiturienten. Sie wollten nämlich unbedingt auf die
Eisbahn, welche auf dem alten Markt aufgebaut war. Ein Spaß übrigens, den sich
viele der B-Junioren in der Winterpause wenigstens einmal gönnten.
„Geht klar, dann bis später!“, verabschiedeten sich Mikel
und Erik, während die Regionalbahn gerade in Schortens/Heidmühle Station
machte. Innerlich schickten die Sechzehnjährigen Stoßgebete zum Himmel, dass
sich ihr Verdacht nicht bestätigen möge. Andererseits wäre es allerdings eine
Erklärung dafür, warum er sich als Sohn einer Hartz IV Empfängerin immer noch
die teuersten Markenklamotten, wie den neuen Karl Kani Zipper und als Duft ‚One
Million‘ leisten konnte.
*****
„Mist – verdammter!“, fluchte der dunkelhaarige Teenager
laut, als sie gerade bei Raffi im Zimmer standen und sein Handy einen
SMS-Eingang bestätigte. Die beiden älteren Freunde waren fündig geworden, als
Johannes mit zittrigen Fingern die Nachricht der Gymnasiasten öffnete, wurde
ihnen das gesamte Ausmaß dieser Tatsache erst richtig bewusst. Sowohl bei
Gayromeo als auch bei Gayroyal waren vor zwei Wochen, genau einen Tag nach dem
sechzehnten Geburtstag ihres Klassenkameraden, zwei identische Profile angelegt
worden. Unter dem Nicknamen Gaylover96 bietet der angeblich volljährige Julian S
spezielle Dienste auch zu Taschengeldtarifen an. Zur Kontaktaufnahme gab es
eine E-Mail-Adresse und eine Handynummer. Die in dem Profil abgelegten Bilder
zeigten eindeutig Aaron Lange. Es gab sogar einige downloadbare Videodateien,
an die man allerdings nur herankam, wenn man in den Kontaktportalen registriert
und eingeloggt war.
„Oh man, ich kann es nicht glauben, dass wir mit unserer
Vermutung richtig lagen.“
„Glaub es ruhig Schatz“, gab Johannes kopfschüttelnd zurück,
„das ist eindeutig unser Aaron, ich versteh nur nicht, warum er so was macht.“
Immer wieder sprangen sie zwischen den Seiten hin und her, die mit qualitativ
hochwertigem Bildmaterial bestückt waren.
*****
Jo und Raffi
beschlossen die Handynummer einmal zu wählen und zu schauen, was passieren
würde. Schließlich musste es doch irgendeinen Weg geben, um dem Mitschüler
helfen zu können, denn so viel stand für sie fest, er machte das nicht
freiwillig.
„Hi hier ist der Julian, was kann ich Schönes für dich tun,
Süßer?“ Johannes Herz begann wie wild zu schlagen. Was tat er da eigentlich?
Wenn Raphael nicht neben ihm gesessen und seine Hand gehalten hätte, hätte er schnell
wieder aufgelegt.
„Ja hi, hier ist der Henning, ich habe dein Profil bei
Gayromeo entdeckt und du gefällst mir“, gab der grünäugige junge Mann mit
zitternder Stimme von sich.
„Du brauchst doch nicht nervös zu sein, ist es das erste
Mal, dass du so was machst?“, kam es aus dem Lautsprecher des Smartphones
zurück. Es war irgendwie erschreckend, wie routiniert der Sechzehnjährige dem
Gespräch eine bestimmte Richtung gab. Im Hintergrund war eine leise Stimme zu
hören, die Aaron irgendetwas zu zischelte. „Bist du noch dran Süßer?“, fragte
der Teenager, als Johannes nach einer Minute immer noch nicht wieder
geantwortet hatte.
„Ja, entschuldige bitte, das war eine dumme Idee von mir und
ich glaube auch nicht, dass mein Taschengeld ausreichen wird“, sonderte
Johannes nervös ab.
„Deine Stimme und deine Art gefallen mir, wie alt bist du
eigentlich?“
„D – d – danke Julian, sechzehn“, stotterte der Fußballer.
„Du bist echt süß, du bekommst mich sechzig Minuten für 30
Euro, wenn du magst. Aber dafür erzählst du mir kurz, was du alles mit mir
machen willst.“ Wieder war dieses Zischeln im Hintergrund zu hören, während
Lange sein Programm abspulte. Johannes überlegte kurz, was er sagen sollte,
dann antwortete er unsicher:
„Also ich würd gern mal wissen, wie das ist – von einem
Jungen einen geblasen zu bekommen und dann möchte ich dich – na du weißt
schon.“ Der Sechzehnjährige schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er das
Gespräch jetzt nicht vergeigt und Aaron ihn doch noch an seiner Stimme erkannt
hatte.
„Abgemacht Süßer. Wir treffen uns um 19:30 Uhr auf dem
Weihnachtsmarkt, beim Glühweinstand, in der Nähe der Schlossapotheke, ich trage
einen Schneetarnanzug und weiße Sneakers.“ Damit beendete Aaron das Gespräch
und legte auf. Johannes und Raphael sahen sich schweigend an, dann wanderte ihr
Blick zur Uhr, ihnen blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, bis zum
vereinbarten Treffen mit Mikel und Erik.
*****
Absagen wollten Jo und Raffi auf keinen Fall, obwohl ihnen die
Lust aufs Schlittschuhlaufen zumindest vorerst vergangen war, das Doppelleben,
welches ihr Klassenkamerad führte, wollte ihnen einfach nicht in ihre Köpfe
gehen. Warum tat er sich so etwas an? Wieder und wieder hallte das
Telefongespräch in ihren Köpfen nach, während sie Händchen haltend zum
Weihnachtsmarkt liefen. Unsere Freunde waren dermaßen in diese Gedanken
vertieft, dass sie nicht einmal registrierten, was sie da eigentlich machten.
Jeder der seine fünf Sinne einigermaßen beisammen hatte würde, wenn er sie jetzt
sah, mitbekommen, dass sie ein Paar sind.
„Wow – so viel Mut
hätten wir euch noch gar nicht zugetraut“, beglückwünschten Erik und Mikel ihre
beiden jüngeren Freunde, als sie mit etwas fünfminütiger Verspätung, Arm in Arm
am vereinbarten Treffpunkt eintrudelten.
‚Mist‘, schoss es Johannes und Raphael durch die Hirnrinde
und sofort lösten sie sich voneinander.
„Jetzt bleibt locker Jungs – schließlich leben wir im 21.
Jahrhundert.“ Sicher damit hatten die beiden Älteren nicht unrecht. Außerdem lebten
sie in der Stadt, mit dem schwulsten Schloss der Welt (es hat von außen einen
rosafarbenen Anstrich), aber würde das auch ausreichen, um sie als Fußballer
und Homopärchen zu akzeptieren? Was wäre, wenn sich dadurch einige ‚Freunde’
von ihnen abwenden würden? Zumindest bot sich hier die Gelegenheit, einen Anfang
zu machen, um es herauszufinden. Entschlossen blickten die Sechzehnjährigen
sich tief in die Augen, ein kurzes Lächeln und dann verschmolzen ihre Lippen miteinander
– dichte Wolken zogen auf, Blitze zuckten, die Erde bebte – ein Tornado raste
heran und zog alles in seinen trichterförmigen Schlund. Ne, Quatsch.
Als sich Raffi und Jo zwei Minuten später voneinander
lösten, war die Welt natürlich nicht untergegangen. Und auf der Eislaufbahn zogen
Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiter fröhlich ihre Bahnen, naja bis auf einen
zehnjährigen Türkenjungen, der mit großen Augen und Maulsperre dastand und dann
kopfschüttelnd ausrief: „Iiiiiiigitt, sind die schwul oder was? Die haben sisch
ihre Zungen bis zu die Mandeln geschtoßen. Isch schwör.“
„Boah halt die Klappe Erkan, du nervst“, rief ein etwa
gleichaltriger Junge und versetzte dem Nachwuchsproll einen Schlag in den
Nacken.
„Sachma spinnst du Stefan? Was haust du misch, bin isch
Punchingball? Isch sag disch, wenn du das noch mal machst, dann – dann …“,
sonderte der kleine Türke angesäuert ab und versuchte den etwas Größeren
wegzuschupsen. Doch der war schnell ausgewichen und fuchtelte jetzt im Gegenzug
mit seinen Fäusten vor dem Gesicht des Südländers herum. Dass so etwas natürlich
Schaulustige anlockt, ist auch in Friesland nichts Neues und so waren die
beiden Kids in kürzester Zeit von einer Traube lärmender Jugendlicher umgeben.
„Was dann Erkan?“, knatterte der kleine Blondschopf provozierend
zurück.
„Dann – dann“, stammelte der Zehnjährige, wobei erste
Tränchen aus den Augen kullerten. „DANN HOL ISCH MEINEN GROSSEN BRUDER!“,
krächzte er brüllend heraus und landete bei dem Versuch das Eis zu verlassen,
heulend auf seinem Hintern, woraufhin sich die Menschenmenge, lauthals über den
‚Helden‘ lachend, auflöste und weiter Schlittschuh lief.
„Erkan – wenn du
nicht sofort mit der Flennerei aufhörst, geb ich dir ‘nen richtigen Grund“,
schnauzte Ergün Özil seinen jüngeren Bruder an. „Mann, du wirst in drei Tagen
elf Jahre alt und benimmst dich hier wie ein Baby!“ Der Sechzehnjährige war
sauer, weil die junge Studentin die eigentlich heute auf seine Brüder aufpassen
und sie zum Weihnachtsmarkt begleiten sollte, wieder einmal kurzfristig abgesagt
hatte und er deshalb früher aus der Klinik heimkehren musste. Sicher der Kleine
konnte nichts dafür, aber sein Verhalten gerade, war erstens absolut nicht okay
und zweitens wurden die Jungs von ihrer Mutter weltoffen erzogen, zumal einer ihrer
Brüder ebenfalls schwul ist und mit einem Mann zusammenlebt. Seinem besten
Freund Stefan dann auch noch wie ein Fünfjähriger damit zu drohen, er würde
seinen großen Bruder rufen, ging ja mal überhaupt nicht.
„Ist Dir eigentlich klar, wie lächerlich du uns machst?“, mischte
sich der mit acht Jahren jüngste Spross der Familie, Bülent Özil jetzt ein.
Auch er hatte natürlich alles mitbekommen und hätte dem älteren Bruder dafür am
liebsten eine geklebt. Stattdessen zog der mit 1,42 Meter Kleinste, Erkan am
Ohr und forderte mit fester Stimme: „So und jetzt entschuldigst du dich gefälligst
bei Johannes und Raphael – sonst feiert dein Arsch heute noch Kirmes.“
Ergün konnte über seinen jüngsten Bruder nur schmunzeln, denn
es war nichts Neues, das Bülent seinem etwas älteren Bruder zeigte, wo es
langging. Wenn der kleine Mann jemandem Prügel androhte, dann zog er es auch
durch. Keiner der unter Dreizehnjährigen aus der Siedlung traut sich mehr dem
kleinen Halbtürken zu widersprechen oder ihn anzufassen, seit Bülent einmal
einen zwölfjährigen Jungen verprügelt hatte und diesem als Andenken ein blaues
Auge schlug, weil dieser ihn als Kanackenmemme beschimpft hatte, als er nicht
mitrauchen wollte. An den Anruf nach dieser Aktion konnte Ergün sich noch mehr
als gut erinnern, weil diese Mutter den Achtjährigen als Nachwuchsrambo
bezeichnete, der wohl nichts Besseres zu tun hätte, als sich an jüngeren und
schwächeren zu vergreifen.
„Nur – falls es Sie
interessieren sollte, Frau Müller“, fiel er der aufgeregt schnatternden Mutter
ins Wort, „mein Bruder Bülent ist erst acht Jahre alt und er hat sich nur
gewehrt, weil ihr sauberer Sohn ihn als Kanackenmemme beschimpft hat, bloß weil
er nicht mitrauchen wollte.“
Nach dieser Bemerkung
wurde es kurz still in der Leitung. Und dann brüllte sie ihren Junior an:
„Robin – wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht in der Öffentlichkeit
rauchen sollst?“
Einen Augenblick
später klatschte es deutlich, Robin Müller schrie, „AUA“, und danach wurde die
Leitung getrennt.
„Entschuldigung“, brümmelte Erkan Özil mit hängendem Kopf
und verheulter Stimme, wobei ihm Rotz aus der Nase lief, welchen er sich am
Ärmel abwischte, während Bülent und Ergün ihn zum Ausgang der Eislaufbahn
schoben.
*****
„Also euer Bülent is‘ ja ein echter Burner – an wen erinnert
der mich nur?“, fragte Johannes den halbtürkischen Freund schmunzelnd, als
dieser wenig später kurz zu ihnen rüberkam – seine jüngeren Brüder hatte er
solange an einem Würstchenstand geparkt. Obwohl Erkan es ja eigentlich nicht
verdient hatte, nachdem er sich, wie so oft in letzter Zeit, daneben benommen
hatte.
„An mich?“, antwortete Özil grinsend. Er war früher genau
nicht anders wie sein jüngster Bruder, es war eigentlich ganz offensichtlich,
wen der kleine Mann sich als Vorbild genommen hatte. „Wenn Erkan sich nur
endlich mal eine winzige Scheibe von ihm abschneiden würde, die zwei wären ein
unschlagbares Gespann“, setzte er seufzend nach und ging dann mit den vier
jungen Männern an einen Bierstand, wo er eine Runde Pils springen ließ. „Prost
Männers, die lass ich Erkan vom Taschengeld abziehn“, verkündete der
Sechzehnjährige scherzend, bevor sie gemeinsam anstießen.
„Das ist unser Ergün, immer großzügig mit dem Geld anderer
Leute“, kam es von Johannes und Raphael schmunzelnd zurück.
„Jap – ach mal eine Frage an euch, ihr seid doch das Pärchen
aus der Zwölften richtig?“, wandte sich der dunkelhaarige Halbtürke an Erik und
Mikel, die gerade antworten wollten, als sie von Bülent und Erkan daran
gehindert wurden, die vom Würstchenstand herüberkamen.
„Jetz‘ guck dir den an Erkan – kaum lässt man Ergün mal fünf
Minuten alleine, schon säuft er mit seinen Homies Bier und uns speist er mit
‘ner billigen Bratwurst ab“, haute Bülent krächzend raus.
„Boah ja, voll krass ungerecht“, spielte der fast Elfjährige
eifrig nickend mit. Auch dies sind die jüngeren Özil Brüder. Sie können sich
vorher noch so sehr gestritten haben, aber wenn es darum geht, vom großen
Bruder oder den Eltern etwas abzustauben, halten sie nicht nur die Hand auf,
sondern auch zusammen wie Pech und Schwefel.
„Na dann kommt her ihr Ganoven“,
sagte Ergün versöhnlich lächelnd – zückte sein Portmonee und gab seinen Brüdern
eine Cola aus.
*****
Durch den ganzen Trubel, den die Özil Brüder verursacht
hatten, hätten Jo und Raffi sogar beinahe vergessen, dass Johannes um 19:30 Uhr
ein ‚Date‘ mit Aaron hat. Erst gegen 19:15 Uhr dachten sie wieder daran, als die
Özils sich verabschiedet hatten und Erik und Mikel das Gespräch auf den
Klassensprecher der Zehntklässler brachten. „Schon ziemlich krass alles, glaubt
ihr er macht das freiwillig?“
„Nein, eigentlich nicht, Mik“, antwortete der
sechzehnjährige Blondschopf auf die Frage des angehenden Abiturienten.
„Als ich da vorhin auf dem Handy angerufen habe, war eine
weitere Stimme im Hintergrund zu hören, zwar nur flüsternd – aber sie war da“,
ergänzte Jo und berichtete noch kurz über den Ablauf dieses Gesprächs.
„Sei bloß vorsichtig“, warnten ihn die beiden älteren
Jugendlichen, die kein gutes Gefühl bei der Sache hatten, wir bleiben auf jeden
Fall in der Nähe“, bot Erik an und deutete in Richtung Glühweinstand. Dort war
mittlerweile ein Jugendlicher in Schneetarnanzug und mit kurzen, hochgegelten
Haaren, eingetroffen. Als er sich nervös suchend umblickte, erkannten die
beiden Sechzehnjährigen ihren Klassenkameraden, der in diesem Aufzug locker
zwei Jahre älter aussah. Johannes holte kurz sein Smartphone heraus,
kontrollierte die Uhrzeit, dann verabschiedete er sich von den Freunden und
ging zunächst rechts um die Bierbude herum, um von dort aus den Weg Richtung Schlossapotheke
und somit zum Glühweinstand einzuschlagen.
*****
Aaron stand mit dem Rücken zu ihm, rauchte eine Zigarette
und unterhielt sich mit einigen der älteren Marktbesucher, die sich um diese
Zeit reichlich an dem Stand tummelten, um Glühwein in sich hineinzuschütten,
dessen alkoholhaltiger Duft immer schwerer in der Luft lag, je näher er dem
Stand kam. Den Sechzehnjährigen packten leise Zweifel daran, ob es das Richtige
war, was er da vorhatte. Am liebsten wäre er jetzt auf der Stelle umgekehrt und
zu Raffi, Mikel und Erik zurückgekehrt. Wie würde Aaron wohl gleich reagieren,
würde er ihn sauer anblaffen und dann wie einen dummen Schuljungen einfach
stehen lassen? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Puls raste und er spürte
ein leichtes Grummeln in der Magengegend, als er nur noch wenige Schritte von
seinem Klassenkameraden entfernt stehen blieb.
„Ju – Ju – Julian?“, brachte er mit nervös krächzender
Stimme hervor. Der Angesprochene drehte sich um und als er erkannte, wen er da
vor sich hatte, fiel ihm die glühende Kippe aus dem Mundwinkel. Er hatte ja mit
vielem gerechnet, Herbert das Schwein hatte ihn in letzter Zeit immer öfter
dazu gezwungen, sich mit richtig schmierigen fetten Säcken zu ‚treffen‘. Selbst
ihr Geschichtslehrer Wagner sollte vor einem Monat sein ‚Kunde‘ sein, als Aaron
sich allerdings weigerte, hatte Herbert ihn erst verprügelt und was er danach die
halbe Nacht mit ihm machte, war für Aaron ein einziger großer Albtraum. Seine
Ma hatte nichts davon mitbekommen, weil sie mal wieder wegen ihrer Alkoholsucht
in einer Entzugsklinik ist und frühestens über Weihnachten für ein paar Tage
nach Hause darf. Und genau deshalb kam Herbert dann auf die Idee, ihn als
Escort auf Gayromeo und Gayroyal anzubieten. Andere Jugendliche bekommen zum sechzehnten
Geburtstag die tollsten Geschenke und er? Naja – ein Gutes hatte diese Sache, wenn
man bei solchen Dingen überhaupt von gut reden konnte, sein ‚Stiefvater‘ hatte
eine obere Altersgrenze eingebaut, dafür musste Aaron sich jetzt aber für nicht
volljährige ‚Kunden‘ – zu Taschengeldtarifen anbieten. So wie vorhin – als er
mit diesem Henning das ‚Treffen‘ vereinbart hatte.
„Du?“ ‚Verzieh dich – ihr Schwuchteln seid doch alle
gleich‘, schoss es dem jungen Mann durch die Hirnrinde, als er in dem jugendlichen
‚Kunden‘, seinen Klassenkameraden Johannes Selders erkannte. Doch dann
erinnerte er sich an die Drohung, die Herbert ihm zugezischt hatte: „Denk dran,
wenn du nicht spurst – verkauf ich dich an einen Puff in Osteuropa.“
„Komm mit“, stammelte er stattdessen verunsichert. Wenn er
keine Kohle nach Hause bringen würde, würde sein ‚Stiefvater‘ seine Drohung
wahr machen, da war Aaron sich ganz sicher. Und dann wären auch die schönen Zeiten,
die er mit Laurin in den letzten Jahren verbracht hatte, endgültig vorbei. Es
war schon hart genug für den Sechzehnjährigen, dass er den Nachbarsjungen, in
dem er nicht nur einfach einen Freund, sondern so etwas Ähnliches wie einen
Bruder gefunden hatte, nicht mehr besuchen durfte. Hinzu kam, dass er mit
seiner Freundin Schluss machen musste, weil sein ‚Stiefvater‘ Herbert nicht
wollte, dass er sich unnötig verausgabte, wie dieser es nannte.
*****
Die beiden Jungs waren ungefähr zwanzig Minuten schweigend
Richtung Stadtausgang in Richtung des großen Einkaufszentrums an der
Bundesstraße gegangen, als Aaron vor einem kleinen Haus stehen blieb, welches
während der Sommermonate als Ferienwohnung vermietet wurde.
„Das gehört meinem Opa und war früher die Wohnung von meinem
Vater, als der siebzehn war, ich darf hier übernachten, wenn es mir daheim zu
viel wird oder wenn ich in Ruhe für Klausuren lernen will. Warte hier – ich hol
den Schlüssel“, sagte er und ging ein paar Meter zurück.
Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis Aaron wieder
zurückkehrte. Das war auch ganz gut so, weil er so nicht mitbekommen hatte, wie
Raphael, Mikel und Erik ebenfalls dort eintrafen, um sich kurz mit Jo
abzusprechen, bevor sie zur Tankstelle weitergingen, um dort eine Weile zu
warten.
*****
„Sind deine Großeltern auch so anstrengend? Opa musste mir
unbedingt erst noch eine Kostprobe von seiner Feuerzangenbowle anbieten, weil
ich so durchgefroren aussah“, brabbelte der Gymnasiast mit schwerer Zunge vor
sich hin, als er wenig später die Tür zur FeWo aufgeschlossen hatte und sie
eingetreten waren. „Hier auf dem Sofa hab ich übrigens im vorigen Jahr Yvonne
entjungfert. Mann ich sag dir – die hat gejodelt, als ich sie gevögelt hab“,
hörten ihn außer Jo auch Erik, Mikel und Raffi kichernd weiterblubbern. Johannes
hatte Raphael kurz vor Aarons Rückkehr auf dem Handy angerufen und der hatte
wie besprochen sein Smartphone auf mithören gestellt, deshalb bekamen sie jetzt
auch alles mit, was gesprochen wurde. „Möchtest du was trinken? Kostet nichts
extra.“
„Aaron“, unterbrach Johannes den Redeschwall des Klassenkameraden,
„ich bin nicht hier, um mit dir etwas zu machen, was du in Wirklichkeit gar
nicht willst.“
„Woher willst ausgerechnet du wissen, was ich will und was
nicht?“, fragte der Sechzehnjährige trotzig und begann sich auszuziehen, als es
an der Wohnungstür klingelte. „Verdammt, was wird hier gespielt!“ Aaron schmiss
zornig seinen Schneetarnkombi auf den Boden, blickte zu seinem
Klassenkameraden, dann zur Tür, wo es Sturm klingelte und wieder zu Johannes,
sein Gesicht verlor alle Farbe. Noch einmal wanderte sein Blick zur Tür und
wieder zurück. Seine Lippen formten ein tonloses „hilf mir“, ihm wurde schwarz
vor Augen und er sank wie ein nasser Sack in sich zusammen.
*****
„Er wacht auf.“ Aaron Lange lag im Bett der Ferienwohnung
und es war Johannes Selders Stimme, die er erkannte. Aber er konnte sich nicht
daran erinnern, wie er da hineingekommen war. Draußen war es bereits wieder
hell – was war eigentlich los und wie lange hatte er geschlafen?
„Gut, ich geh dann
mal rüber zu seinem Opa und sag ihm Bescheid, der war ja ganz krank vor Sorge“,
sagte Raphael leise und verließ kurz drauf die Wohnung. Aaron blickte fragend
in die Augen seines Klassenkameraden, was war nur passiert, das er hier im Bett
aufgewachte und wie war er überhaupt hier reingekommen? Er erinnerte sich nur
noch daran, dass er Jo auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hatte und dann mit ihm
zur FeWo seines Opas gegangen war. Er wusste noch, dass er als er den Schlüssel
holte, mit dem Vater seines leiblichen Vaters ein paar Gläser Feuerzangenbowle
getrunken hatte und danach fehlte ihm die Erinnerung.
*****
„Nein, bleib liegen, du hattest einen Schwächeanfall und
hast fast eineinhalb Tage geschlafen“, klärte der dunkelhaarige Gymnasiast
seinen Klassenkameraden auf und drückte ihn mit sanfter Gewalt aufs Nachtlager
zurück, nachdem er versucht hatte aufzustehn.
„Aaron, was hat dieser Herbert mit die angestellt?“ Der
Gefragte richtete sich erneut im Bett auf.
„Nichts, gar nichts“, log der Sechzehnjährige seinen
Klassenkameraden an.
„Du brauchst nicht mehr zu lügen Aaron. Herbert Kaminski
sitzt in Untersuchungshaft und kann dir nichts mehr tun.“ Der Schüler sah
seinen Klassenkameraden zunächst ungläubig an, dann schossen erste Tränen in
seine Augen, dann umarmte er Johannes dankbar, der sich diese Geste ruhig
gefallen ließ.
„Danke“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.
„Danke nicht uns, sondern bedank dich bei Laurin, sobald du
ihn siehst“, begann Jo, „ohne ihn hätten wir wahrscheinlich noch längst nicht
hinterfragt, was dich so verändert hat.“
„Aber wie seid …“, begann der Jugendliche.
„Dass irgendetwas nicht stimmt, hat die ganze Klasse ja
mitbekommen. Du warst zuletzt oft übermüdet, deine aggressiv negative
Einstellung zu Homosexuellen, die teuren Marken, die du seit einiger Zeit
trägst, obwohl ihr von Hartz IV leben müsst. Das passte alles nicht zusammen
Aaron. Und zuletzt das, was Laurin uns über dich erzählte …“
*****
Es war etwa 22:00 Uhr
als Raphael, Erik und Mikel beobachteten, wie Jo Selders und Aaron Lange in der
Ferienwohnung verschwanden. Was dort gesprochen wurde, hatten sie ja dank den
Smartphones mit anhören können. Sie wollten gerade zur Wohnung rübergehen, als
ein froschgrüner VW-Polo vor der FeWo anhielt, ein etwa vierzigjähriger Mann
ausstieg. Dieser Typ war etwa 1,90 Meter groß und machte einen ziemlich
erregten Eindruck auf die Jugendlichen.
„Was wird hier
gespielt!“, drang Aarons erregte Stimme aus dem Lautsprecher von Raphaels
Smartphone. Die drei Jugendlichen hörten, wie der Fremde Sturm klingelte und
dann die aufgeregte Stimme von Johannes:
„Jungs ich brauche
eure Hilfe – schnell!“
Erik und Mikel rannten
sofort auf den Typen los und es dauerte keine zwei Sekunden, dann hatten sie
ihn überwältigt und in den Schwitzkasten genommen.
„Lasst mich sofort
los“, zischte er wütend und versuchte sich aus dem Griff zu lösen. Doch die
beiden Jugendlichen taten ihm den Gefallen nicht.
„Erst werden Sie uns
sagen, was Sie von unsrem Freund Aaron wollen“, zischelte Raphael.
„Das geht dich mal gar
nicht an!“
„Ach, ich wusste gar
nicht, dass wir bereits per Du sind“, stellte Raphael trocken fest, während
Mikel den Mann durchsuchte und wenig später dessen Brieftasche in der Hand
hielt, aus welcher er lediglich den Personalausweis zog, den er Raffi übergab.
„So, Herr Kaminski.
Wir werden jetzt ganz ruhig hier warten, bis die Polizei eintrifft und dann
können sie den Herren erzählen, warum Sie meinen Klassenkameraden schlagen und
ihn zwingen auf den Strich zu gehen“, schoss der Jugendliche munter ins Blaue
hinein, nachdem er die Adresse abgeglichen hatte unter der dieser Mann gemeldet
war. Der schaltete auf stur und versuchte erneut sich aus dem Klammergriff von
Mikel und Erik zu befreien. „Sie wollen also nicht warten?Dann muss ich wohl
andere Seiten aufziehen“, ließ Raffi ruhig raus. Dann ballte er eine Faust,
holte aus und versetzte Herbert einen gezielten Schlag auf die Zwölf. Danach
ging er zum PKW rüber, öffnete die Heckklappe und holte aus dem Kofferraum das
Abschleppseil heraus, welches er Erik und Mikel zuwarf um den Verdächtigen
damit zu fesseln.
*****
In der Ferienwohnung hatte
Johannes Aaron zwischenzeitlich aufs Bett gelegt und über den zentralen Notruf
einen Notarzt und Polizei angefordert, die etwas zwanzig Minuten später
eintrafen.
„Das war gute Arbeit
Jungs, obwohl ich mir gewünscht hätte, ihr hättet mich vorher eingeweiht“,
lobte Polizeihauptwachtmeister Selders seinen Sohn und dessen drei Freunde, als
dieser ebenfalls am Einsatzort eingetroffen war.
„Sicher wäre das
besser gewesen Vati, aber wir wollten doch zunächst wirklich sicher sein. Damit
nicht weitere kostbare Zeit verloren ging.“
Als der Notarzt wenig
später aus der FeWo heraustrat und dem Opa von Aaron mitteilte, dass es seinem
Enkelsohn den Umständen entsprechend gut ginge, sodass er nicht ins Krankenhaus
müsste, aber dass er halt Ruhe bräuchte, fiel dem alten Mann ein Stein vom
Herzen. Herr Lange war eigentlich gerade auf dem Weg ins Bett, als die Sirenen
losgingen und es wenig später an seiner Haustür klingelte und die Polizei vor
ihm stand.
Er fiel buchstäblich
aus allen Wolken, als er später durch Johannes und Raphael erfuhr, was seinem
Enkel Aaron alles widerfahren war und machte sich schwere Vorwürfe, dass er
nichts davon bemerkt hatte.
*****
„Raffi und ich haben abwechselnd bei dir gewacht und gestern
war dein Opa bei dir, solange wir in der Schule waren. Ach ja Laurin lässt
schöne Grüße ausrichten und er wünscht sich, dass du ihn bald mal im
Krankenhaus besuchst.“
„Danke“, stammelte Aaron erneut, als Johannes seinen Bericht
der Ereignisse beendet hatte.
„Aaron“, war das erste was der alte Herr Lange sagte, als er
mit Raffi eintrat.
„Opa, es tut mir leid“, stammelte der Sechzehnjährige als
sein Großvater ihn wenig später in die Arme schloss.
„Ist schon gut Junge und ich verspreche dir was. Sobald
deine Mutti wieder nach Hause darf, zieht ihr beide bei mir ein. Ich habe genügend
Platz und die Ferienwohnung gehört ab sofort dir.“
*****
Mittlerweile war es 17:00 Uhr geworden und Aaron fühlte sich
fit genug, um seinen Freund Laurin in der Klinik zu besuchen. Schließlich so
fand er, hatte er die letzten eineinhalb Tage wirklich mehr als genug
geschlafen.
„Überraschung – guck mal, wen wir dir mitgebracht haben!“,
riefen Johannes und Raphael aus, als sie gegen 18:00 Uhr in das gemeinsame
Krankenzimmer von Malte Gruber und Laurin Peters traten. Herr Lange hatte sich
spontan bereit erklärt, die Jungs zum Krankenhaus zu fahren und später auch
dort wieder abzuholen. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um seine Tochter,
Aarons Tante, zu besuchen, die unweit der Klinik wohnte.
„Aaaaron!“, rief Laurin aus und strahlte mit dem Freund um
die Wette, der hinter den beiden Sechzehnjährigen ins Krankenzimmer getreten
war, direkt zu ihm rüber ging und ihn vorsichtig umarmte.
Die beiden anderen gingen derweil zu Malte, bei dem wo so
oft in letzter Zeit neben Ergün auch dessen Stiefvater Werner mit am Bett saß,
der die beiden nach einer kurzen Begrüßung für ein Gespräch unter sechs Augen
vor die Tür bat.
*****
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Johannes und Raphael“, begann er kaum, dass sie draußen auf dem Gang standen, „Sie haben absolut richtig gehandelt, mein Verhalten war inakzeptabel, dass habe ich mittlerweile eingesehen und bin froh und erleichtert darüber, dass Malte mir zwar noch nicht ganz verziehen hat, aber bereit ist, mir die zweite Chance zu geben.“ In den nächsten Minuten entwickelte sich zwischen den Dreien ein ruhig sachliches Gespräch, welches darin gipfelte, dass man sich das ‚Du‘ anbot.
„Habt ihr zwischenzeitlich irgendwas Neues von Björn
gehört?“ Jo und Raffi wussten ja aus erster Hand, das die Fahndung nach dem
flüchtigen Jugendlichen bislang immer noch ohne zählbaren Erfolg verlaufen war.
Diese Frage verneinte Henseleit.
„Ich kann nur hoffen, dass Björn doch noch zur Besinnung
kommt und sich der Verantwortung für seine Taten freiwillig stellt, selbst wenn
dies bedeutet, dass er dafür ins Gefängnis muss.“ Es kostete Henseleit viel
Kraft und er kämpfte mit den Tränen, als er dies sagte. „Aber“, so führte er
weiter aus, „ich werde auf keinen Fall zulassen, dass er mir meine Familie zerstört, das haben Malte
und seine Mutter nicht verdient.“ Es waren harte Worte von einem Mann, der
jahrelang nicht wahrhaben wollte, dass es sein größter Fehler war, dem
leiblichen Sohn mehr zu Vertrauen als dem angeheirateten. „Malte bekommt Montag
seinen Gehgips angepasst und darf die Klinik verlassen, dann wollen wir
gemeinsam seine Mutter aus dem Reinhard Nieter Krankenhaus abholen, mit ihr
essen gehen und anschließend zusammen nach Hause fahren“, schloss Werner nach
etwa zehn Minuten.
*****
„Ich darf Weihnachten einen Tag zusammen mit Aaron und
seinem Großvater verbringen und Silvester feiern wir auch zusammen“, sprudelte
es auch Laurin heraus, als Werner, Johannes und Raphael wenig später ins
Krankenzimmer traten.
„Und ihr vier seid zu Silvester auch eingeladen“, ergänzte
Aaron, dem man die Erleichterung anmerkte, dass die Freundschaft zwischen dem
kleinen Halbasiaten und ihm keinen Schaden genommen hatte. Klar Laurin und
Malte würden wegen ihrer Verletzungen besonders aufpassen müssen, aber was
machte das schon aus, wenn sie dafür mit guten Freunden ins nächste Jahr rüber rutschen
könnten. Selbst Werner Henseleit, sah die Pläne der Jungs zum Jahresende
positiv, so könnte er sich wenigstens mal wieder richtig um seine Frau und den
Kleinen kümmern. Doch jetzt wollte er den sechs Freunden erst noch eine kleine
Freude bereiten und eine Kleinigkeit für sie zum Essen besorgen.
„Au ja – schöne fette Döner, mit viiiel scharf“, hatten Laurin und Malte
sich grinsend bestellt. Der Krankenhausfraß war zwar nicht ganz so schlecht wie
sein Ruf, aber sie wollten doch endlich mal wieder etwas Vernünftiges zwischen
die Zähne bekommen. Logisch, dass Ergün, Raffi und Jo sich diesem Wunsch uneingeschränkt
anschlossen.
„Gemeinsam werden wir das schon packen, dem sterilen Mief
hier zu Leibe zu rücken!“
Dies schafften die Jungs dann auch dermaßen gut, dass die
Nachtschwester bei einem Kontrollgang, wegen der intensiven Knoblauchwolke
rückwärts aus dem Zimmer flüchtete und mit einer Atemschutzmaske überm Gesicht
zurückkehrte, was natürlich noch Monate später, für den LACHER im
gesamten Klinikum sorgen sollte.
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