Johannes wollte sein
Handy gerade beiseitelegen und aufstehen, als J.B.‘s Stimme erneut aus dem
mobilen Kommunikationsgerät erklang. Diesmal las er den Namen Ergün Özil auf
dem Display und kaum hatte er dieses Gespräch angenommen, als der Türke auch
schon aufgeregt losbrabbelte: „Ey voll krass Alda, der Trainerarsch hatte
Unfall mit sein Dreier BMW und kann nächste Zeit, sein Döner aus Schnabeltasse
lutschen. Isch schwör.“
„Jetzt hol mal tief
Luft und rede anständig mit mir“, haute Jo breit grinsend raus. Ergün war
erstens Halbtürke, zweitens in Deutschland geboren und auch so erzogen worden.
„Is‘ ja gut“, nuschelte
dieser gespielt beleidigt, „eigentlich wollt ich bloß fragen, ob ich
vorbeikommen darf, weil das Training ausfällt.“
Der Schwarzhaarige
überlegte kurz und dann antwortete er: „Öhm Raffi und ich haben eigentlich gerade
beschlossen, dass wir heute Abend ins Kino gehen. Aber klar - komm ruhig
vorbei.“
„Man ey, ihr benehmt
euch seit ein paar Wochen voll wie so‘n altes Ehepaar. Seid ihr schwul oder
was?!“, haute der Türke doch tatsächlich raus. Jo musste nach dieser Bemerkung
schlucken. War es so offensichtlich, dass Raphael und er ein Paar sind? Dabei
hatten sie doch bisher so was von aufgepasst, sich in der Öffentlichkeit nichts
anmerken zu lassen.
„Und wenn es so wäre,
was dann?“, wollte er gerade fragen, als ihm Özil lachend in die Parade fuhr.
„Du kannst übrigens die
Haustür öffnen, rate mal, wer davor steht“, sprachs und legte dann einfach auf.
Ja --- Ergün hatte manchmal ein einnehmendes Wesen und dies nicht erst seit
gestern. Noch völlig in Gedanken, stiefelte der Sechzehnjährige, wie er war
nach unten, und öffnete dem im ersten Augenblick ungläubig dreinschauenden
Abwehrspieler wenig später die Haustür.
„Huuuuuu, da freut sich
aber einer, mich zu sehen. Empfängst du deine Besucher neuerdings immer so?“,
sprudelte es aus dem jungen Türken, den Blick fest auf das Anhängsel seines
Mannschaftskameraden gerichtet, welches ihm fröhlich und mit ganz langem Hals
sein rosiges Köpfchen, aus dem Schlitz der Boxershorts, entgegenstreckte,
heraus.
„Schnack nich’, komm
rein“, grummelte der Teenager mit hochrotem Kopf. Wo waren eigentlich die Erdlöcher,
wenn man eins brauchte? Nachdem Ergün eingetreten und die Tür geschlossen war,
versuchte Jo seinen widerspenstigen Hosenpython ins stöfferne Gefängnis
zurückzusperren, was von Özil breit grinsend kommentiert wurde:
„Na will er nich‘? Hab
dich wohl gerade beim wixxen gestört!“
„Ha, ha, sehr witzig du
Vollhonk. Ne haste nich‘, aber ich habe bis gerade geratzt“, brabbelte Johannes
vor sich hin, als er das Untier endlich gebändigt hatte. „Und tu jetz‘ nich‘
so, als ob du noch nie mit ‘ner Latte aufgewacht bist.“ Treffer und versenkt,
damit hatte er seinen türkischen Kumpel eiskalt erwischt. Natürlich wachte auch
Ergün regelmäßig mit ‘ner Chropila (chronische Pisslatte) auf, was ja auch
völlig normal ist, in einem Alter, in dem die Hormone ständig zum überkochen
neigen. Was aber noch peinlicher für Özil war, und was selbst sein deutscher
Kumpel nicht von ihm wusste, war, dass nicht ausschließlich irgendwelche
weiblichen Stars als Wichsfantasien herhalten durften, sondern auch seine
besten Kumpels, Jo und Raffi, denen er nach dem Training, unter der Dusche
immer heimlich auf die Nudeln schielte.
*****
Kaum waren sie oben im Zimmer und Johannes
hatte sich seine enge weiße Jeans aus dem Kleiderschrank gegriffen, da
klingelte es an der Haustür.
„Öhm -- gehst du bitte
eben und machst auf, das kann eigentlich nur Raffi sein“, bat er den
sechzehnjährigen Halbtürken, um sich in Ruhe fertig anzuziehen.
„Hi Sch… äh Ergün“,
verbesserte sich der flachsblonde Teenager schnell, als er erkannte, dass es
nicht Jo, sondern ihr Teamkamerad war, der ihm wenig später die Tür geöffnet
hatte.
„Ihr habts heute beide
etwas stärker, wa?“, fragte der Abwehrspezialist, nachdem er Raphael
hereingebeten hatte. Der verstand zunächst nur Bahnhof, bis Ergün folgenden
Satz zur Erklärung beisteuerte: „Na der hat mir vorhin nur in Boxers die Tür
aufgemacht und sein du weißt schon wer, grinste mir fröhlich entgegen.“
„Äh -- wie jetzt!“
Irgendwie begriff Raffi immer noch nicht so ganz, worauf der türkischstämmige
Teenager hinaus wollte.
„Man -- sein Hammer
erstrahlte in vollem Glanz, sein Ständer guckte in die große Welt hinaus!“,
haute er angenervt über so viel Begriffsstutzigkeit raus, bevor Johannes
grinsend hinter ihm auftauchte und ihm einen leichten Schlag in den Nacken gab.
„Danke Ergün, vielen,
vielen Dank. Willst du nicht lieber gleich die Bild anrufen und daraus ‘ne
Staatsaffäre machen?“ Der Sechzehnjährige war nicht wirklich sauer auf seinen
Teamkameraden, aber den kleinen Dämpfer fand er schon gerechtfertigt, man
stelle sich bloß mal vor, er hätte das in der Mannschaftskabine herum posaunt.
Wie schnell hätte die Sache dort an die falsche Adresse gelangen und den
‚Schleifer‘ zu einer seiner berüchtigten Spitzen animieren können. Solche Dinge
können auch schnell von einem Lacher zu einem persönlichen ‚Eigentor‘ mutieren,
besonders weil ihr Trainer so etwas wie Gnade ja nicht im entferntesten kannte.
*****
„Moin Jungs, was ist
denn hier los, Versammlung?“, fragte Herr Selders, als er mit seiner Frau schwer
bepackt vom Großeinkauf zurück ins Haus trat, wo die drei Freunde immer noch im
Flur standen.
„Moin“, grüßten Ergün
und Raphael freundlich zurück.
„Nö, wir wollten gerade
in mein Zimmer, aber können wir tragen helfen?“, fragte Jo für die anderen
beiden gleich mit.
„Das wäre lieb von euch,
du kennst ja deinen Vater. Der kauft immer gleich so viel Bier, das man glauben
könnte, die Brauerei macht morgen dicht“, antwortete Johannes‘ Mutter ihrem
Gatten dabei zuzwinkernd.
‚Was sich liebt, das
neckt sich eben‘, dachten sich die Jungs, während sie wenig später jeder zwei
volle Kisten Bier auf einmal, aus dem Kombi, in den Schuppen schleppten. Als
sie kurz darauf wieder ins Haus traten, rief Herr Selders die drei direkt zu
sich ins Wohnzimmer und bat sie Platz zu nehmen.
„Was wir jetzt
besprechen, muss aber vorerst unter uns bleiben“, begann der
Polizeihauptwachtmeister, nachdem er seinen Sohn und dessen Teamkameraden mit
Getränken versorgt hatte. „Der Unfall von Verheugen, kam nicht von ungefähr,
soweit ich von meinen Kollegen erfahren habe, stand euer Trainer wohl unter
Drogen, als er sein Fahrzeug um den Laternenpfahl zu wickeln versuchte. Ist
euch da irgendwann mal etwas in der Richtung aufgefallen?“ Dass man mehrere
Päckchen Kokain gefunden und sichergestellt hatte, behielt, Hauptwacht Selders
vorerst für sich, auch wenn er den Jungs durchaus zutraute, solche
Informationen für sich zu behalten, wollte er doch lieber die weiteren
Untersuchungsergebnisse abwarten.
„Naja -- jetzt, wo du
so fragst, Paps. Er benimmt sich schon häufig wie ein Affe auf Speed oder Koks.
Nur alleine sein Verhalten, wenn wir ein Spiel verloren haben. Da lässt er uns
mit schweren Sandsäcken auf dem Rücken durch den Upjeverschen Forst laufen.
Seine Sprüche beim Training sind häufig homophob bis rassistisch und die
Geschichte, warum ich nicht mehr Mannschaftskapitän bin, kennst du ja bereits“,
ließ Johannes die Katze aus dem sprichwörtlichen Sack, was Raphael und Ergün
uneingeschränkt bestätigten. Selders Senior hatte vorerst genug gehört, stellte
aber bevor er den Vereinspräsidenten anrief noch eine Frage, die speziell bei
Ergün extrem große Augen und Maulsperre hervorrief.
„Wegen dieser
homophoben Aussagen -- hatte er da speziell auf Raffi und oder dich abgezielt?“
Dies verneinte das
junge Paar zwar, aber ihrem türkischen Freund entgleisten buchstäblich
sämtliche Gesichtszüge. „Jetzt guck doch nicht so Ergün oder sind Jo und ich
für dich jetzt weniger männlich, bloß weil du jetzt weißt, dass wir ein
schwules Pärchen sind?“
„Wir sind bisher
nämlich noch nicht öffentlich damit hausieren gegangen Paps“, versuchte Jo
seinem Vater die für ihren Mannschaftskameraden, völlig neue Information zu
erklären.
„Na dann klärt das mal
auf deinem Zimmer mit ihm, solange ich mit Erwin Zabel telefoniere. Ach ja --
bevor ich es vergesse, bis Samstag bekommen wir ja keinen neuen Trainer für
euch. Traut ihr beiden euch den Job bis nach dem Pokalspiel zu?“ Und ob sich
Raphael und Johannes das zutrauten. Denn bis auf Pawel standen ihre
Teamkameraden garantiert geschlossen hinter ihnen.
*****
„Ihr habt mich verarscht, ihr seid doch nicht
wirklich schwul -- oder?“, fragte Ergün und nippte an seiner Cola. Dass bei dem
Unfall des Trainers, noch etwas anderes im Spiel gewesen ist, war vollständig
an dem Sechzehnjährigen vorübergegangen. Von Malte, dem rothaarigen Weichspüler
aus dem Mittelfeld, hätte er das eher vermutet, so wie der rumlief und aussah.
Aber ausgerechnet Johannes und Raphael, die waren doch viel zu männlich für so
was oder etwa doch nicht? Klar er hatte sich schon mal heimlich einschlägige Filmchen
auf einer der vielen gratis Sextubeseiten angesehen und diesen Typen stand auch
nicht auf der Stirn geschrieben, ‚hey du, wir sind schwul‘. Aber Jo und Raffi,
nein, das konnte einfach nicht stimmen.
„Tja Schatz, auf die
sanfte Tour will er es wohl doch nicht begreifen“, säuselte der Blondschopf
verliebt, biss seinem Freund zärtlich ins Ohrläppchen und schon starteten sie eine
Knutscherei unter heftigstem Zungeneinsatz, dass dem Halbtürken die Ohren
schlackerten und es in seinen Hosen zu spannen begann.
„Is ja gut, ich glaubs
euch ja -- aber mal ‘ne Frage. Stimmt das eigentlich, was man über Schwule sagt,
könnt ihr wirklich mit den Arschbacken Nüsse knacken?“, brabbelte Özil wirr vor
sich hin und hätte sich vor Aufregung fast den Rest Cola auf die Hose gegossen,
statt in die dafür eigentlich vorgesehene Körperöffnung.
„Also probiert haben
wir das bis jetzt noch nicht“, sonderte Raphael zwinkernd ab.
„Aber wir können es
gerne mal mit deinen probieren“, ergänzte Johannes, bevor sie sich zu zweit auf
den Abwehrspieler stürzten und ihn ordentlich durchkitzelten.
Eigentlich fühlten die
Jungs sich für solche ‚Kindereien‘ wie Kitzelschlachten, ja mittlerweile zu
alt. Aber hin und wieder wie in diesem Moment gehörte es zu ihrer Freundschaft
einfach noch dazu. Schließlich waren sie ja unter sich und es bestand keine
Gefahr, dass es irgendwer, außer natürlich den Eltern von Johannes, mitbekommen
würde.
Is‘ ja gut -- ich
ergebe mich“, blubberte Ergün fünf Minuten später erschöpft und mit puterrotem
Gesicht.
„Schade, dabei fing es
gerade an richtig Spaß zu machen“, schoss Raffi noch eine kleine Spitze ab,
bevor sich das Trio keine Sekunde zu früh entknotete, weil es genau in diesem
Moment an die Tür klopfte und Jos Mutter ihren Kopf kurz ins Zimmer streckte.
„Jo Schatz, Vati ist
fertig mit telefonieren und bittet euch noch mal runterzukommen, bevor er zum
Dienst muss“, sprachs und schloss die Tür wieder hinter sich.
„Jo Schatz? Deine
Mutter nennt dich Schatz? Oh man wie geil is‘ das denn!“
„Ergün Özil -- du kannst
von Glück sagen, das wir runter müssen. Sonst hätte ich jetzt direkt an der
Stelle weiter gemacht, wo wir gerade aufgehört haben“, drohte Jo zwar, konnte
sich ein breites Grinsen dabei allerdings nicht verkneifen. Woraufhin alle drei
lachten, bevor sie das Zimmer verließen.
*****
„So Jungs, drei Dinge
habe ich für Euch“, begann Herr Selders, kaum dass die drei im Wohnzimmer Platz
genommen hatten. „Also -- Verheugen ist mit sofortiger Wirkung als euer Trainer
entlassen und Präsident Zabel ist damit einverstanden, dass du gemeinsam mit
Raphael, bis auf Weiteres das Training der B1 übernimmst, weil Momentan kein
anderer Trainer für euch verfügbar ist. An den Spieltagen bekommt Ihr pro forma
den Trainer der ersten Herren, Sebastian Böhm, an die Seite gestellt, er wird
in der Kabine lediglich beratende Funktionen übernehmen und Euch auf dem Platz
den Rücken frei halten, damit Ihr beide auch gleichzeitig auf dem Platz stehen
könnt. Das ist bereits geklärt, gibt es dazu Fragen?“ Da weder der eine noch
der andere eine Frage hierzu hatte, ging es direkt mit Punkt zwei weiter.
„Der nächste Punkt
betrifft auch Ergün, ihr seid definitiv die drei besten FSV-Spieler in der
Altersklasse B. Deshalb möchte Werner Raffi und dich gerne für die
Trainerlizenz und Ergün für den Schiedsrichterlehrgang anmelden. Seid ihr
bereit so viel Verantwortung zu übernehmen?“
„Wow ich als
Schiedsrichter? Wie geil is‘ das denn, klar will ich das machen“, gab der 1,65
Meter große Türke mit Stolz geschwollener Brust von sich und schien dabei um mindestens
einen Meter gewachsen.
„Und wie sieht’s mit
euch beiden aus? Offiziell dürftet ihr nur die Kleinen trainieren, aber wenn es
jetzt gut bei euch läuft, würde Erwin erst bei eurem Wechsel in den
A-Jugendbereich einen neuen Trainer verpflichten wollen.“
Wie es bei oder in
Raffi und Jo aussah? Gut sah es aus, sehr gut sogar, das fette Grinsen, welches
sie gerade in ihren Gesichtern trugen, wollte gar nicht mehr weichen, bei solch
einem Angebot. Klar, die Trainerlizenz gab es nicht als Inhalt einer Corn
Flakes Packung und sie würden dafür zumindest für den theoretischen Teil richtig
pauken müssen. Aber das fiel den beiden ja selbst auf dem Gymi nicht sonderlich
schwer, also sagten sie natürlich ebenfalls „Ja“.
„Nachdem das geklärt
ist, hab ich leider noch eine unangenehme Sache mit euch beiden zu klären.
Ergün würdest du bitte so lange zu meiner Frau in die Küche gehen?“ Der
Sechzehnjährige verstand zwar nicht warum, folgte der Aufforderung dann aber
unter schwachem Protest. Warum musste er ausgerechnet immer dann gehen, wenn es
gerade spannend wurde? Seine Eltern konnten das auch meisterhaft.
*****
„So, nachdem wir jetzt
unter uns sind. Hört euch bitte erst einmal in Ruhe an, was ich zu sagen habe,
bevor ihr dazu Stellung bezieht“, bat Johannes‘ Vater sich aus, bevor er zur
Sache kam. „Es geht um Folgendes, ich habe vorhin noch einen Anruf aus dem
Revier erhalten. Verheugen behauptet steif und fest, dass er das Kokain beim
letzten Training in euren Sachen gefunden und euch abgenommen hätte. Und aus
Angst, dass er damit zur Polizei geht, sollt ihr ihm sexuelle Dienste als ‚Schweigegeld‘
angeboten haben, was er aber kategorisch abgelehnt hätte.“ Die beiden
Jugendlichen glaubten irgendwie gerade im völlig falschen Film zu sein,
versuchte dieses dumme Schwein von einem Ex-Trainer jetzt wirklich den eigenen Kopf
aus der Schlinge zu ziehen, indem er sie belastete? So eine Unverfrorenheit,
weder Raphael noch er hatten auch nur im entferntesten etwas mit Drogen am Hut.
Okay sie tranken, wie neulich an seinem Geburtstag, hin und wieder Alkohol,
aber sonst? Sie hatten in ihrem bisherigen Leben ja noch nicht mal Zigaretten
angerührt, auch wenn sie dafür von anderen manchmal schief angeschaut wurden.
Und was dieses angebliche Sexangebot anbelangte, das war ja wohl der absolute Gipfel
der Frechheit, schließlich war Ergün bisher der einzige Außenstehende, der von
ihrer Homosexualität etwas wusste und dies auch erst seit heute Abend.
„Also Paps, du musst
uns bitte glauben, dass an dem was dieser Typ da abgesondert hat, nicht das
geringste Fünkchen Wahrheit ist“, rang Johannes sich fassungslos ab.
„Natürlich glaube ich
euch Jungs. Trotz allem werdet ihr zu diesen 'Vorwürfen' von den Kollegen der
Kripo vernommen werden müssen. Aber ich werde zu den Kollegen dort heute noch Kontakt
aufnehmen damit das Ganze möglichst schnell und ruhig vonstattengeht. Solange
möchte ich euch aber darum bitten, mit niemandem sonst über die Sache zu
sprechen. Wir schaffen das schon Jungs“, versuchte Selders die Zwei noch zu
beruhigen, bevor er das Haus Richtung Dienststelle verlassen musste. Beruhigen,
das war leichter gesagt als getan. Ablenkung musste her, und zwar ganz
dringend. Aber Moment mal, sie wollten doch zusammen ins Kino. Mittlerweile war
es 19:30 Uhr und in einer Stunde würde die Spätvorstellung beginnen, wenn sie
die noch schaffen wollten, ging das nur, wenn Johannes’ Mutter Taxi für die
Jungs spielen würde.
*****
„Danke, dass ihr mich
mitgenommen habt“, freute sich Ergün, als sie an der Nordseepassage
ausgestiegen und sich vorerst von Jos Mutter verabschiedet hatten, die das Trio
später auch wieder abholen würde. Der junge Halbtürke freute sich beinahe ein
Bein darüber aus, denn obwohl sein Vater in der Altstadt ein recht gut
laufendes Restaurant betrieb, musste er sich wie seine besten Freunde auch,
sein zusätzliches Taschengeld für wirklich tolle Klamotten, neben Schule und
Sportplatz selbst verdienen. Indem er nebenbei, außerhalb der Ferien Freitags
Abends und während der Ferien mehrmals die Woche an trainings- und spielfreien
Tagen, im Restaurant kellnerte. Deshalb blieb ihm wenig Zeit, für Vergnügungen
wie zum Beispiel einem Kinobesuch. Johannes jobbte übrigens seit einigen
Monaten als Fitnesstrainer, in einem Fitnesscenter in der Nachbarstadt und
Raphael arbeitete nebenher dreimal die Woche in einem Kiosk.
„Kein Ding Digga, denn
ob ich den Kinogutschein von Doreen jetzt dreimal alleine nutze oder ich geh einmal
mit euch beiden. So haben wir alle was von dem Burzeltagsgeschenk und du kommst
mal wieder richtig raus.“ Ergün musste im Gegensatz zu seinen
Mannschaftskameraden nämlich deutlich mehr lernen, um auf dem Gymnasium
mithalten zu können, was in einem Haushalt mit noch drei weiteren, jüngeren
Geschwistern, nicht unbedingt immer leicht fällt. Wer selbst noch jüngere
Geschwister hat, wird bestätigen können, dass da so manches Mal, besonders dann,
wenn man sie ‚hüten‘ und oder ihre Hausaufgaben überwachen darf, die Nerven
blank liegen.
„Jungs lasst uns
langsam reingehen, ich hab keinen Bock hier draußen anzuwurzeln oder mir den
Arsch abzufrieren“, bat Raffi augenzwinkernd. Und damit hatte er leider recht,
zwar war es noch nicht sibirisch kalt, aber es ließ sich trotz allem nicht
verleugnen, dass das Jahr dem Ende entgegen ging. Am Wochenende noch das
Pokalspiel und danach ging auch ihr Team endgültig in die Winterpause.
Zumindest draußen -- denn spätestens mit Jahresbeginn würde die Hallenrunde
eingeläutet werden, mit Punktspielen und einigen kleineren Turnieren in Bezirk
und Kreis.
*****
Endlich saßen die Drei im Kinosaal und warteten,
während sich der Raum weiter mit Publikum füllte, gespannt darauf, dass der
Film endlich anfangen würde. Die von Peter Jackson in Neuseeland inszenierte,
Herr der Ringe – Trilogie kannten die drei Jugendlichen ja leider nur als DVDs,
weil sie noch zu jung waren, als die Filme ab 2001 im Kino erfolgreich waren.
Aber jetzt waren auch sie endlich Teil der Fangemeinde und harrten mit Popcorn,
Bier und Cola bewaffnet der Dinge, die da kommen sollten. Zumindest für
Johannes und Raphael war dieser Kinobesuch ja noch in einer weiteren Hinsicht
etwas Besonderes. Klar sie waren in den letzten paar Jahren schon öfters
zusammen im Kino gewesen, aber diesmal waren sie als Pärchen hier und da war es
natürlich vorprogrammiert, dass sie sobald der Hauptfilm beginnen würde
Händchen halten, schmusen und natürlich auch ihren Lippen und Zungen ein
straffes Trainingsprogramm verabreichen würden. Schließlich würde das ja im
Halbdunkeln außer Ergün niemand mitbekommen.
So dachten sie
zumindest, denn unter den Nachzüglern, denen später mit Taschenlampen der Weg
zu ihren Plätzen geleuchtet wurde, befand sich auch der fast achtzehnjährige Björn
Henseleit, das Stürmerass der FSV-A-Jugend mit seiner derzeitigen Perle. Dieser
machte übrigens nicht nur wegen spielerischer Qualitäten von sich reden,
sondern war auch dafür bekannt, dass er seine Freundinnen wie Unterhosen
wechselte -- nämlich einmal im Monat.
Auch sonst war der KFZ-Mechatroniker-Azubi
durch seine nicht sonderlich einfühlsame Ader bekannt. Im vergangenen Jahr soll
er mit ein paar Rechtsradikalen auf dem CSD in Oldenburg ziemlich lautstark
gegen Schwule gewettert haben. Dies ist aber ein nicht bestätigtes Gerücht.
Sicher ist dagegen, dass er im Schlosspark zwei schwule Jugendliche, aus der
Nachbarstadt, massiv bedroht hatte, bloß weil sie dort nach Schulschluss
Händchen haltend auf einer Parkbank gesessen hatten. Dies hatten Raffi und Jo
im vergangenen Mai eher zufällig mitbekommen, weil ihnen die Jungs atemlos und
verängstigt direkt in die Arme rannten.
Also ein Typ, dem man privat
lieber aus dem Weg ging oder wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, nur von
hinten und dann am besten aus ganz sicherer Entfernung sah.
*****
„Mist, ausgerechnet
jetzt -- meine Blase drückt. Lasst mich mal schnell durch“, bettelte Ergün
leise und verdrehte schon fast die Augen dabei. Bloß gut, dass sich die drei
Freunde zusammenhängende Plätze zum Gang und möglichst weit hinten genommen
hatten. So musste sich der sechzehnjährige Halbtürke nicht endlos durch die
bereits voll besetzte Reihe quälen, um möglichst flott Richtung Ausgang zu gelangen
und die für ihn erlösenden Räumlichkeiten zu erreichen. Sonst hätte es für den
Abwehrspieler durchaus hochnotpeinlich enden können. So wie damals als er zehn
Jahre alt war und es in der Schule nicht mehr rechtzeitig zur Toilette
geschafft hatte. Damals wurde er in der Schule noch Wochen später damit
aufgezogen, weil er es nicht mehr halten konnte und sich nur wenige Meter
vorher, noch auf dem Pausenhof, einzunässen begann.
Während Ergün wenig
später am Pinkelbecken stand, um dort der Sache freien Lauf zu lassen, konnten
sich Raffi und Jo im Kinosaal kaum noch halten vor Lachen, weil der Blondschopf
eine Spontanidee hatte, welche er mit Hilfe seines Freundes auch sofort
realisierte. Raphael wollte unbedingt den guten alten Popcorngag ausprobieren,
den sie aus alten Teenagerkomödien kannten. Da sie sich die größtmögliche
Portion gegönnt hatten, würde Ergün garantiert erst dann dahinterkommen, was da
eigentlich gespielt wurde, wenn es zu spät ist. Johannes hatte in seiner
Winterjacke immer eine Tragetasche dabei, in diese schüttete Raffi den Inhalt
des Bechers, um dann mit seinem Taschenmesser, welches er immer mit sich führte,
weil es gleichzeitig als Schlüsselanhänger diente, ein genügend großes Loch in
den Boden zu schneiden. Als dass Saallicht dann endlich gedimmt wurde, öffnete
er schnell seinen Hosenstall und beförderte sein Familienerbstück, aus der
Boxershort, durch das Loch in den Becher. Johannes schüttete den Puffmais in
den Behälter zurück und fertig war der Partyspaß, über den sie noch Monate
später lachen könnten, wann immer einer von ihnen das Wort ‚Popcorn‘ auch nur
in den Mund nehmen würde.
*****
Jo und Raffi genossen
es, im Halbdunkel miteinander zu kuscheln und verliebt, wie sie nun einmal
waren, ihre Zungen miteinander tanzen zu lassen. Da wurde der Film fast schon
zur angenehmen Nebensache. Dass sie außer ihrem türkischen Kumpel Ergün auch irgendwer
dabei beobachten könnte, der ihnen ihr kleines Glück missgönnte, daran
verschwendeten sie nicht den winzigsten Gedanken. Und doch war es so: Denn
Björn Henseleit saß in der nächsten Reihe genau hinter dem jungen Pärchen und
bekam dadurch natürlich hautnah mit, was für ‚perverse‘, ‚widernatürliche‘
Dinge, sich vor seinen eigenen Augen abspielten. Denn natürlich hatte er die
Pimpfe aus der B-Jugend sofort erkannt, die sich da gegenseitig mit Popcorn
fütterten und unter Zungeneinsatz miteinander schnäbelten. Hätte er nicht diese
naive blonde Dumpfbacke bei sich, welche ihn geradezu anhimmelte und ihn heute
Nacht noch einlochen lassen würde, dann hätte er Selders und Senner sofort unmissverständlich
klar gemacht, was er von schwulen Spielchen unter Fußballern hielt und dass so
etwas im FSV nichts verloren hat.
Ergün war voll in
seinem Element, gute Freunde, Kino, Cola und immer eine ordentliche Fuhre
Popcorn im Mund, mehr brauchte der Sechzehnjährige nicht zum glücklich sein.
Klar wäre es noch schöner, wenn auch er jetzt irgendwen zum Schmusen hätte.
Aber so war es auch Weltklasse, und wenn die beiden Turteltauben nicht richtig
zulangten, so waren sie selbst dran schuld. Er würde den Puffmais schon aufgefuttert
bekommen, bevor er schlecht werden konnte.
Greifen, in den Mund
stopfen, kauen, schlucken und mit Cola nachspülen. Ja -- wenn der Halbtürke
etwas konnte, dann war es - essen. Und wenn es ihm schmeckte, das war bei ihm
außer bei Spinat eigentlich immer der Fall, dann durften die Portionen auch
gerne etwas größer ausfallen. Und dabei sah man ihm kein Stück an, was er so in
sich reindrücken konnte. Wo andere schon zunahmen, wenn sie nur an essen
dachten oder das fett gedruckte in der Tageszeitung lasen. Wenn er nachmittags alleine
durch den Schlosspark joggte, musste er regelmäßig aufpassen, dass ihn die
Enten nicht vor Mitleid zu füttern versuchten. Halt -- Stopp, schlechter
Scherz, das stimmte natürlich nicht -- aber er konnte halt essen, was er wollte,
ohne dabei zuzunehmen. Das wusste der Sechzehnjährige natürlich, als er jetzt
wieder in den Bottich auf Raffis Schoß griff und plötzlich, außer Popcorn etwas
zu fassen, bekam, was da eigentlich nicht hineingehörte.
Erschrocken zog er
seine Hand aus dem Behälter zurück. Nein -- das konnte jetzt aber wirklich
nicht sein oder etwa doch? Ungläubig blickte er Raphael und Johannes an, die
seelenruhig auf die Leinwand blickten. Hatte ihm seine Fantasie jetzt einen
Streich gespielt? So ein Blödsinn, bestimmt hatte er sich nur getäuscht. So
dachte der Jugendliche und wagte einen zweiten Versuch. Seine beiden Freunde
dagegen kostete es wirklich Mühe, nicht lauthals loszuprusten, als sie Ergün
ganz vorsichtig aus den Augenwinkeln beobachteten.
Der Sechzehnjährige
griff also erneut in den Becher wühlte im Puffmais und bekam zu seiner
Überraschung, wieder den körperwarmen Jackpot zu fassen. Doch diesmal beugte er
sich ein wenig zu Raffi hinüber, linste vorsichtig in den Becher hinein. Seine
Augen wurden immer größer, die Kinnlade drudelte ihm runter, dann zog er seine
Hand zurück, guckte erst diese an, dann erneut in den Becher und zu guter Letzt
wieder in die Gesichter seiner Kumpels, die keinerlei Regung zu zeigen
schienen. Doch nur einen Wimpernschlag später verzogen sich ihre Mundwinkel und
sie kicherten sich einen Wolf.
„Willste noch Popcorn
Ergün? Bedien dich ruhig“, flüsterten Johannes und Raphael vor sich hin grunzend.
„Ihr seid echte Ferkel,
wisst ihr das?“, war die einzige Reaktion des Türken, bevor er sich grinsend
eine weitere Handvoll aus dem Becher fischte, um sich diese sofort demonstrativ
in den Mund zu schieben.
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