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Mittwoch, 20. März 2013

Eigentor?! 6

Kapitel 5: Stumme Hilfeschreie


Das Verhalten von Aaron änderte sich auch in den folgenden Tagen nicht, sobald irgendwer in den Pausen versuchte über Homosexuelle und ihre Stellung in der Gesellschaft zu reden, flippte der sechzehnjährige Schüler völlig aus, was ihn bei den Mitschülern zusehends unbeliebter machte. Auch erschien er zweimal in Folge verspätet zum Unterricht und schlief total übermüdet während der Stunden ein. Wenn die Lehrer ihn darauf ansprachen, gab er entweder nur ausweichende oder gar keine Antwort darauf. Am Donnerstag fehlte er dann komplett.

Laurin und Malte ging es von Tag zu Tag besser und letzterer bekam täglich Besuch von seinem Stiefvater.

„Irgendwie kann ich es nicht ganz glauben, aber zwischen Werner und mir scheint es wirklich eine positive Wende in unserer Beziehung zu geben. Wir haben so viel miteinander gesprochen, wie in den letzten vier Jahren nicht mehr, seit der Stress mit Björn anfing“, sprudelte es nur so aus dem Rothaarigen heraus, als Johannes und Raphael ihn am frühen Donnerstagnachmittag im Krankenhaus besuchten.

„Hey, das hört sich doch cool an, aber sei trotz allem vorsichtig, irgendwie ist uns diese Entwicklung unheimlich“, relativierten Jo und Raffi ihre zuvor getroffene Aussage.

„Ne schon klar, aber mal ’ne andere Frage, wie läufts in der Schule so ganz ohne mich?“ Auch Malte war diese Entwicklung nicht ganz geheuer, obwohl er nicht umhin kam anzumerken, dass sie ihm gefiel und gut tat. Deshalb versuchte er, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, schnellstmöglich das Thema zu wechseln.

„Na ja es ist in den Pausen schon echt langweilig ohne dich und Laurin. Aber momentan haben wir eigentlich kaum Zeit darüber nachzudenken. Ihr kennt doch unsren Klassensprecher den Aaron Lange oder?“

„Is‘ das nicht der Typ, der immer so groß rum tönt, wie viele Mädels er schon flachgelegt hat?“, fragte Malte mit einem frechen Grinsen im Gesicht.

„Genau der ist es. Seit Montag früh dreht der total am Hamsterrad. Erst wollte er in total abfälligem Ton wissen, wer die Schwulen B-Junioren sind und seit Dienstag rastet er jedes Mal aus, wenn irgendwer sich über Homosexuelle unterhalten will. Dann kommt er ständig zu spät zum Unterricht und heute hat er sogar unentschuldigt komplett blaugemacht.“

„Offen gestanden, wundert mich das nicht bei dem Elternhaus“, warf Laurin in die Unterhaltung ein. Was der Halbasiate den drei Freunden jetzt anvertraute, hörte sich selbst für Malte beinah unglaublich an, obwohl Laurin ihnen mehrfach beteuerte, dass es die Wahrheit ist. „Ihr erinnert euch doch sicher auch noch daran, dass der farbige Mittelstürmer von TB Berlin bis vor drei Jahren regelmäßig bei uns Urlaub machte?“

Sicher erinnerten sich die drei B-Junioren daran, auch wenn sie damals erst zehn Jahre alt waren, als Ronald Bumbuu zum ersten Mal in der friesischen Kreisstadt auftauchte. „Jedenfalls besuchte er dort regelmäßig Aarons Vater und der schickte seinen Sohn dann immer zum Spielen zu mir, weil sie etwas Wichtiges besprechen müssten, wo er bei stören würde.“ Aarons Mutter, die damals noch als Altenpflegerin in einem Seniorenheim arbeitete, war stets außer Haus, wenn der ‚Braune Bomber‘ bei den Langes daheim aufkreuzte. Wenn das wirklich alles stimmte, was Laurin in den folgenden Minuten, auch über den neuen Lebensgefährten der Mutter erzählte, dann könnte man Aarons‘ seltsames Verhalten der letzten Tage als eine Art stummen Hilfeschrei werten.

„Bist du dir ganz sicher, dass der Neue ihn schlägt?“

„Ganz sicher Raffi – ich habe mehrmals seinen Rücken gesehen, wenn er sich zu uns rüber geflüchtet und bei mir übernachtet hat. Und seit zwei Wochen etwa, kommt er gar nicht mehr zu mir, und wenn wir uns in der Schule sehen, ignoriert er mich und tut so als würden wir uns nicht kennen.“ Es war Mitleid, welches in den letzten Sätzen mitschwang. Mitleid für einen Freund, der sich über lange Zeit sehr verändert hatte und sich nach außen hin immer mehr einzukapseln schien. Es klang geradeso, als hätte Aaron eine Mauer um sich herum errichtet. Und diese vermochte nicht einmal mehr Laurin, der dem Klassensprecher der 10a stets ein guter Freund gewesen war, einzureißen, weil er ihn nicht mehr an sich ranließ. Raffi und Jo begannen das Ganze erneut zu überdenken. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem, was Mikel und Erik zufällig auf dem Klo in der Diskothek mitbekommen hatten und den ganzen Ereignissen bei Aaron zu Hause? Und wenn ja, welchen?

*****
Über Besuchermangel brauchten sich Malte und Laurin jedenfalls nicht zu beklagen, denn kaum hatten sich die beiden Juniorteamchefs verabschiedet, als neben Laurins Eltern auch Ergün und Werner Henseleit ins Krankenzimmer eintraten. Letzterer schien immer noch ein schlechtes Gewissen zu haben, dass er jetzt schon den vierten Tag in Folge sein Geschäft für ein paar Stunden vernachlässigte, um Zeit mit seinem Stiefsohn verbringen zu können, bewies zumindest, dass ein Umdenkprozess bei ihm in Gang gesetzt worden war. Ob dieser allerdings von Dauer sein würde, konnte im Endeffekt nur die Zeit zeigen.

*****

Als sie wenig später in der Nordwestbahn saßen, griff Johannes nach seinem Smartphone um Mikel und Erik anzurufen. Raphael hatte, als sie aus dem Krankenhaus heraustraten, einen Verdacht geäußert, welchen er teilte.

„Könnt ihr bitte mal auf den ‚Blauen Seiten‘ nachsehen, ob es da ein Escortprofil gibt, dass zu Aaron passen könnte? Raffi und ich haben nämlich den Verdacht, dass er seinen Körper verkauft.“

„Klar – machen wir“, versprach Erik, „Falls wir was finden, schicken wir euch den Link aufs Handy.“

„Aber es bleibt doch trotzdem dabei, 18:00 Uhr am Eingang zum Weihnachtsmarkt?“, wollte Mikel wissen.

„Auf jeden Fall und denkt an eure Schlittschuhe“, erinnerte Raphael die angehenden Abiturienten. Sie wollten nämlich unbedingt auf die Eisbahn, welche auf dem alten Markt aufgebaut war. Ein Spaß übrigens, den sich viele der B-Junioren in der Winterpause wenigstens einmal gönnten.

„Geht klar, dann bis später!“, verabschiedeten sich Mikel und Erik, während die Regionalbahn gerade in Schortens/Heidmühle Station machte. Innerlich schickten die Sechzehnjährigen Stoßgebete zum Himmel, dass sich ihr Verdacht nicht bestätigen möge. Andererseits wäre es allerdings eine Erklärung dafür, warum er sich als Sohn einer Hartz IV Empfängerin immer noch die teuersten Markenklamotten, wie den neuen Karl Kani Zipper und als Duft ‚One Million‘ leisten konnte.

*****

„Mist – verdammter!“, fluchte der dunkelhaarige Teenager laut, als sie gerade bei Raffi im Zimmer standen und sein Handy einen SMS-Eingang bestätigte. Die beiden älteren Freunde waren fündig geworden, als Johannes mit zittrigen Fingern die Nachricht der Gymnasiasten öffnete, wurde ihnen das gesamte Ausmaß dieser Tatsache erst richtig bewusst. Sowohl bei Gayromeo als auch bei Gayroyal waren vor zwei Wochen, genau einen Tag nach dem sechzehnten Geburtstag ihres Klassenkameraden, zwei identische Profile angelegt worden. Unter dem Nicknamen Gaylover96 bietet der angeblich volljährige Julian S spezielle Dienste auch zu Taschengeldtarifen an. Zur Kontaktaufnahme gab es eine E-Mail-Adresse und eine Handynummer. Die in dem Profil abgelegten Bilder zeigten eindeutig Aaron Lange. Es gab sogar einige downloadbare Videodateien, an die man allerdings nur herankam, wenn man in den Kontaktportalen registriert und eingeloggt war.

„Oh man, ich kann es nicht glauben, dass wir mit unserer Vermutung richtig lagen.“

„Glaub es ruhig Schatz“, gab Johannes kopfschüttelnd zurück, „das ist eindeutig unser Aaron, ich versteh nur nicht, warum er so was macht.“ Immer wieder sprangen sie zwischen den Seiten hin und her, die mit qualitativ hochwertigem Bildmaterial bestückt waren.

*****

 Jo und Raffi beschlossen die Handynummer einmal zu wählen und zu schauen, was passieren würde. Schließlich musste es doch irgendeinen Weg geben, um dem Mitschüler helfen zu können, denn so viel stand für sie fest, er machte das nicht freiwillig.

„Hi hier ist der Julian, was kann ich Schönes für dich tun, Süßer?“ Johannes Herz begann wie wild zu schlagen. Was tat er da eigentlich? Wenn Raphael nicht neben ihm gesessen und seine Hand gehalten hätte, hätte er schnell wieder aufgelegt.

„Ja hi, hier ist der Henning, ich habe dein Profil bei Gayromeo entdeckt und du gefällst mir“, gab der grünäugige junge Mann mit zitternder Stimme von sich.

„Du brauchst doch nicht nervös zu sein, ist es das erste Mal, dass du so was machst?“, kam es aus dem Lautsprecher des Smartphones zurück. Es war irgendwie erschreckend, wie routiniert der Sechzehnjährige dem Gespräch eine bestimmte Richtung gab. Im Hintergrund war eine leise Stimme zu hören, die Aaron irgendetwas zu zischelte. „Bist du noch dran Süßer?“, fragte der Teenager, als Johannes nach einer Minute immer noch nicht wieder geantwortet hatte.

„Ja, entschuldige bitte, das war eine dumme Idee von mir und ich glaube auch nicht, dass mein Taschengeld ausreichen wird“, sonderte Johannes nervös ab.

„Deine Stimme und deine Art gefallen mir, wie alt bist du eigentlich?“

„D – d – danke Julian, sechzehn“, stotterte der Fußballer.

„Du bist echt süß, du bekommst mich sechzig Minuten für 30 Euro, wenn du magst. Aber dafür erzählst du mir kurz, was du alles mit mir machen willst.“ Wieder war dieses Zischeln im Hintergrund zu hören, während Lange sein Programm abspulte. Johannes überlegte kurz, was er sagen sollte, dann antwortete er unsicher:

„Also ich würd gern mal wissen, wie das ist – von einem Jungen einen geblasen zu bekommen und dann möchte ich dich – na du weißt schon.“ Der Sechzehnjährige schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass er das Gespräch jetzt nicht vergeigt und Aaron ihn doch noch an seiner Stimme erkannt hatte.

„Abgemacht Süßer. Wir treffen uns um 19:30 Uhr auf dem Weihnachtsmarkt, beim Glühweinstand, in der Nähe der Schlossapotheke, ich trage einen Schneetarnanzug und weiße Sneakers.“ Damit beendete Aaron das Gespräch und legte auf. Johannes und Raphael sahen sich schweigend an, dann wanderte ihr Blick zur Uhr, ihnen blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, bis zum vereinbarten Treffen mit Mikel und Erik.

*****

Absagen wollten Jo und Raffi auf keinen Fall, obwohl ihnen die Lust aufs Schlittschuhlaufen zumindest vorerst vergangen war, das Doppelleben, welches ihr Klassenkamerad führte, wollte ihnen einfach nicht in ihre Köpfe gehen. Warum tat er sich so etwas an? Wieder und wieder hallte das Telefongespräch in ihren Köpfen nach, während sie Händchen haltend zum Weihnachtsmarkt liefen. Unsere Freunde waren dermaßen in diese Gedanken vertieft, dass sie nicht einmal registrierten, was sie da eigentlich machten. Jeder der seine fünf Sinne einigermaßen beisammen hatte würde, wenn er sie jetzt sah, mitbekommen, dass sie ein Paar sind.

 „Wow – so viel Mut hätten wir euch noch gar nicht zugetraut“, beglückwünschten Erik und Mikel ihre beiden jüngeren Freunde, als sie mit etwas fünfminütiger Verspätung, Arm in Arm am vereinbarten Treffpunkt eintrudelten.

‚Mist‘, schoss es Johannes und Raphael durch die Hirnrinde und sofort lösten sie sich voneinander.

„Jetzt bleibt locker Jungs – schließlich leben wir im 21. Jahrhundert.“ Sicher damit hatten die beiden Älteren nicht unrecht. Außerdem lebten sie in der Stadt, mit dem schwulsten Schloss der Welt (es hat von außen einen rosafarbenen Anstrich), aber würde das auch ausreichen, um sie als Fußballer und Homopärchen zu akzeptieren? Was wäre, wenn sich dadurch einige ‚Freunde’ von ihnen abwenden würden? Zumindest bot sich hier die Gelegenheit, einen Anfang zu machen, um es herauszufinden. Entschlossen blickten die Sechzehnjährigen sich tief in die Augen, ein kurzes Lächeln und dann verschmolzen ihre Lippen miteinander – dichte Wolken zogen auf, Blitze zuckten, die Erde bebte – ein Tornado raste heran und zog alles in seinen trichterförmigen Schlund. Ne, Quatsch.

Als sich Raffi und Jo zwei Minuten später voneinander lösten, war die Welt natürlich nicht untergegangen. Und auf der Eislaufbahn zogen Kinder, Jugendliche und Erwachsene weiter fröhlich ihre Bahnen, naja bis auf einen zehnjährigen Türkenjungen, der mit großen Augen und Maulsperre dastand und dann kopfschüttelnd ausrief: „Iiiiiiigitt, sind die schwul oder was? Die haben sisch ihre Zungen bis zu die Mandeln geschtoßen. Isch schwör.“

„Boah halt die Klappe Erkan, du nervst“, rief ein etwa gleichaltriger Junge und versetzte dem Nachwuchsproll einen Schlag in den Nacken.

„Sachma spinnst du Stefan? Was haust du misch, bin isch Punchingball? Isch sag disch, wenn du das noch mal machst, dann – dann …“, sonderte der kleine Türke angesäuert ab und versuchte den etwas Größeren wegzuschupsen. Doch der war schnell ausgewichen und fuchtelte jetzt im Gegenzug mit seinen Fäusten vor dem Gesicht des Südländers herum. Dass so etwas natürlich Schaulustige anlockt, ist auch in Friesland nichts Neues und so waren die beiden Kids in kürzester Zeit von einer Traube lärmender Jugendlicher umgeben.

„Was dann Erkan?“, knatterte der kleine Blondschopf provozierend zurück.

„Dann – dann“, stammelte der Zehnjährige, wobei erste Tränchen aus den Augen kullerten. „DANN HOL ISCH MEINEN GROSSEN BRUDER!“, krächzte er brüllend heraus und landete bei dem Versuch das Eis zu verlassen, heulend auf seinem Hintern, woraufhin sich die Menschenmenge, lauthals über den ‚Helden‘ lachend, auflöste und weiter Schlittschuh lief.

„Erkan – wenn du nicht sofort mit der Flennerei aufhörst, geb ich dir ‘nen richtigen Grund“, schnauzte Ergün Özil seinen jüngeren Bruder an. „Mann, du wirst in drei Tagen elf Jahre alt und benimmst dich hier wie ein Baby!“ Der Sechzehnjährige war sauer, weil die junge Studentin die eigentlich heute auf seine Brüder aufpassen und sie zum Weihnachtsmarkt begleiten sollte, wieder einmal kurzfristig abgesagt hatte und er deshalb früher aus der Klinik heimkehren musste. Sicher der Kleine konnte nichts dafür, aber sein Verhalten gerade, war erstens absolut nicht okay und zweitens wurden die Jungs von ihrer Mutter weltoffen erzogen, zumal einer ihrer Brüder ebenfalls schwul ist und mit einem Mann zusammenlebt. Seinem besten Freund Stefan dann auch noch wie ein Fünfjähriger damit zu drohen, er würde seinen großen Bruder rufen, ging ja mal überhaupt nicht.

„Ist Dir eigentlich klar, wie lächerlich du uns machst?“, mischte sich der mit acht Jahren jüngste Spross der Familie, Bülent Özil jetzt ein. Auch er hatte natürlich alles mitbekommen und hätte dem älteren Bruder dafür am liebsten eine geklebt. Stattdessen zog der mit 1,42 Meter Kleinste, Erkan am Ohr und forderte mit fester Stimme: „So und jetzt entschuldigst du dich gefälligst bei Johannes und Raphael – sonst feiert dein Arsch heute noch Kirmes.“

Ergün konnte über seinen jüngsten Bruder nur schmunzeln, denn es war nichts Neues, das Bülent seinem etwas älteren Bruder zeigte, wo es langging. Wenn der kleine Mann jemandem Prügel androhte, dann zog er es auch durch. Keiner der unter Dreizehnjährigen aus der Siedlung traut sich mehr dem kleinen Halbtürken zu widersprechen oder ihn anzufassen, seit Bülent einmal einen zwölfjährigen Jungen verprügelt hatte und diesem als Andenken ein blaues Auge schlug, weil dieser ihn als Kanackenmemme beschimpft hatte, als er nicht mitrauchen wollte. An den Anruf nach dieser Aktion konnte Ergün sich noch mehr als gut erinnern, weil diese Mutter den Achtjährigen als Nachwuchsrambo bezeichnete, der wohl nichts Besseres zu tun hätte, als sich an jüngeren und schwächeren zu vergreifen.

„Nur – falls es Sie interessieren sollte, Frau Müller“, fiel er der aufgeregt schnatternden Mutter ins Wort, „mein Bruder Bülent ist erst acht Jahre alt und er hat sich nur gewehrt, weil ihr sauberer Sohn ihn als Kanackenmemme beschimpft hat, bloß weil er nicht mitrauchen wollte.“

Nach dieser Bemerkung wurde es kurz still in der Leitung. Und dann brüllte sie ihren Junior an: „Robin – wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht in der Öffentlichkeit rauchen sollst?“

Einen Augenblick später klatschte es deutlich, Robin Müller schrie, „AUA“, und danach wurde die Leitung getrennt.

„Entschuldigung“, brümmelte Erkan Özil mit hängendem Kopf und verheulter Stimme, wobei ihm Rotz aus der Nase lief, welchen er sich am Ärmel abwischte, während Bülent und Ergün ihn zum Ausgang der Eislaufbahn schoben.

*****

„Also euer Bülent is‘ ja ein echter Burner – an wen erinnert der mich nur?“, fragte Johannes den halbtürkischen Freund schmunzelnd, als dieser wenig später kurz zu ihnen rüberkam – seine jüngeren Brüder hatte er solange an einem Würstchenstand geparkt. Obwohl Erkan es ja eigentlich nicht verdient hatte, nachdem er sich, wie so oft in letzter Zeit, daneben benommen hatte.

„An mich?“, antwortete Özil grinsend. Er war früher genau nicht anders wie sein jüngster Bruder, es war eigentlich ganz offensichtlich, wen der kleine Mann sich als Vorbild genommen hatte. „Wenn Erkan sich nur endlich mal eine winzige Scheibe von ihm abschneiden würde, die zwei wären ein unschlagbares Gespann“, setzte er seufzend nach und ging dann mit den vier jungen Männern an einen Bierstand, wo er eine Runde Pils springen ließ. „Prost Männers, die lass ich Erkan vom Taschengeld abziehn“, verkündete der Sechzehnjährige scherzend, bevor sie gemeinsam anstießen.

„Das ist unser Ergün, immer großzügig mit dem Geld anderer Leute“, kam es von Johannes und Raphael schmunzelnd zurück.

„Jap – ach mal eine Frage an euch, ihr seid doch das Pärchen aus der Zwölften richtig?“, wandte sich der dunkelhaarige Halbtürke an Erik und Mikel, die gerade antworten wollten, als sie von Bülent und Erkan daran gehindert wurden, die vom Würstchenstand herüberkamen.

„Jetz‘ guck dir den an Erkan – kaum lässt man Ergün mal fünf Minuten alleine, schon säuft er mit seinen Homies Bier und uns speist er mit ‘ner billigen Bratwurst ab“, haute Bülent krächzend raus.

„Boah ja, voll krass ungerecht“, spielte der fast Elfjährige eifrig nickend mit. Auch dies sind die jüngeren Özil Brüder. Sie können sich vorher noch so sehr gestritten haben, aber wenn es darum geht, vom großen Bruder oder den Eltern etwas abzustauben, halten sie nicht nur die Hand auf, sondern auch zusammen wie Pech und Schwefel.

„Na dann kommt her ihr Ganoven“, sagte Ergün versöhnlich lächelnd – zückte sein Portmonee und gab seinen Brüdern eine Cola aus.

*****

Durch den ganzen Trubel, den die Özil Brüder verursacht hatten, hätten Jo und Raffi sogar beinahe vergessen, dass Johannes um 19:30 Uhr ein ‚Date‘ mit Aaron hat. Erst gegen 19:15 Uhr dachten sie wieder daran, als die Özils sich verabschiedet hatten und Erik und Mikel das Gespräch auf den Klassensprecher der Zehntklässler brachten. „Schon ziemlich krass alles, glaubt ihr er macht das freiwillig?“

„Nein, eigentlich nicht, Mik“, antwortete der sechzehnjährige Blondschopf auf die Frage des angehenden Abiturienten.

„Als ich da vorhin auf dem Handy angerufen habe, war eine weitere Stimme im Hintergrund zu hören, zwar nur flüsternd – aber sie war da“, ergänzte Jo und berichtete noch kurz über den Ablauf dieses Gesprächs.

„Sei bloß vorsichtig“, warnten ihn die beiden älteren Jugendlichen, die kein gutes Gefühl bei der Sache hatten, wir bleiben auf jeden Fall in der Nähe“, bot Erik an und deutete in Richtung Glühweinstand. Dort war mittlerweile ein Jugendlicher in Schneetarnanzug und mit kurzen, hochgegelten Haaren, eingetroffen. Als er sich nervös suchend umblickte, erkannten die beiden Sechzehnjährigen ihren Klassenkameraden, der in diesem Aufzug locker zwei Jahre älter aussah. Johannes holte kurz sein Smartphone heraus, kontrollierte die Uhrzeit, dann verabschiedete er sich von den Freunden und ging zunächst rechts um die Bierbude herum, um von dort aus den Weg Richtung Schlossapotheke und somit zum Glühweinstand einzuschlagen.

*****

Aaron stand mit dem Rücken zu ihm, rauchte eine Zigarette und unterhielt sich mit einigen der älteren Marktbesucher, die sich um diese Zeit reichlich an dem Stand tummelten, um Glühwein in sich hineinzuschütten, dessen alkoholhaltiger Duft immer schwerer in der Luft lag, je näher er dem Stand kam. Den Sechzehnjährigen packten leise Zweifel daran, ob es das Richtige war, was er da vorhatte. Am liebsten wäre er jetzt auf der Stelle umgekehrt und zu Raffi, Mikel und Erik zurückgekehrt. Wie würde Aaron wohl gleich reagieren, würde er ihn sauer anblaffen und dann wie einen dummen Schuljungen einfach stehen lassen? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Puls raste und er spürte ein leichtes Grummeln in der Magengegend, als er nur noch wenige Schritte von seinem Klassenkameraden entfernt stehen blieb.

„Ju – Ju – Julian?“, brachte er mit nervös krächzender Stimme hervor. Der Angesprochene drehte sich um und als er erkannte, wen er da vor sich hatte, fiel ihm die glühende Kippe aus dem Mundwinkel. Er hatte ja mit vielem gerechnet, Herbert das Schwein hatte ihn in letzter Zeit immer öfter dazu gezwungen, sich mit richtig schmierigen fetten Säcken zu ‚treffen‘. Selbst ihr Geschichtslehrer Wagner sollte vor einem Monat sein ‚Kunde‘ sein, als Aaron sich allerdings weigerte, hatte Herbert ihn erst verprügelt und was er danach die halbe Nacht mit ihm machte, war für Aaron ein einziger großer Albtraum. Seine Ma hatte nichts davon mitbekommen, weil sie mal wieder wegen ihrer Alkoholsucht in einer Entzugsklinik ist und frühestens über Weihnachten für ein paar Tage nach Hause darf. Und genau deshalb kam Herbert dann auf die Idee, ihn als Escort auf Gayromeo und Gayroyal anzubieten. Andere Jugendliche bekommen zum sechzehnten Geburtstag die tollsten Geschenke und er? Naja – ein Gutes hatte diese Sache, wenn man bei solchen Dingen überhaupt von gut reden konnte, sein ‚Stiefvater‘ hatte eine obere Altersgrenze eingebaut, dafür musste Aaron sich jetzt aber für nicht volljährige ‚Kunden‘ – zu Taschengeldtarifen anbieten. So wie vorhin – als er mit diesem Henning das ‚Treffen‘ vereinbart hatte.

„Du?“ ‚Verzieh dich – ihr Schwuchteln seid doch alle gleich‘, schoss es dem jungen Mann durch die Hirnrinde, als er in dem jugendlichen ‚Kunden‘, seinen Klassenkameraden Johannes Selders erkannte. Doch dann erinnerte er sich an die Drohung, die Herbert ihm zugezischt hatte: „Denk dran, wenn du nicht spurst – verkauf ich dich an einen Puff in Osteuropa.“

„Komm mit“, stammelte er stattdessen verunsichert. Wenn er keine Kohle nach Hause bringen würde, würde sein ‚Stiefvater‘ seine Drohung wahr machen, da war Aaron sich ganz sicher. Und dann wären auch die schönen Zeiten, die er mit Laurin in den letzten Jahren verbracht hatte, endgültig vorbei. Es war schon hart genug für den Sechzehnjährigen, dass er den Nachbarsjungen, in dem er nicht nur einfach einen Freund, sondern so etwas Ähnliches wie einen Bruder gefunden hatte, nicht mehr besuchen durfte. Hinzu kam, dass er mit seiner Freundin Schluss machen musste, weil sein ‚Stiefvater‘ Herbert nicht wollte, dass er sich unnötig verausgabte, wie dieser es nannte.

*****

Die beiden Jungs waren ungefähr zwanzig Minuten schweigend Richtung Stadtausgang in Richtung des großen Einkaufszentrums an der Bundesstraße gegangen, als Aaron vor einem kleinen Haus stehen blieb, welches während der Sommermonate als Ferienwohnung vermietet wurde.

„Das gehört meinem Opa und war früher die Wohnung von meinem Vater, als der siebzehn war, ich darf hier übernachten, wenn es mir daheim zu viel wird oder wenn ich in Ruhe für Klausuren lernen will. Warte hier – ich hol den Schlüssel“, sagte er und ging ein paar Meter zurück.

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis Aaron wieder zurückkehrte. Das war auch ganz gut so, weil er so nicht mitbekommen hatte, wie Raphael, Mikel und Erik ebenfalls dort eintrafen, um sich kurz mit Jo abzusprechen, bevor sie zur Tankstelle weitergingen, um dort eine Weile zu warten.

*****

„Sind deine Großeltern auch so anstrengend? Opa musste mir unbedingt erst noch eine Kostprobe von seiner Feuerzangenbowle anbieten, weil ich so durchgefroren aussah“, brabbelte der Gymnasiast mit schwerer Zunge vor sich hin, als er wenig später die Tür zur FeWo aufgeschlossen hatte und sie eingetreten waren. „Hier auf dem Sofa hab ich übrigens im vorigen Jahr Yvonne entjungfert. Mann ich sag dir – die hat gejodelt, als ich sie gevögelt hab“, hörten ihn außer Jo auch Erik, Mikel und Raffi kichernd weiterblubbern. Johannes hatte Raphael kurz vor Aarons Rückkehr auf dem Handy angerufen und der hatte wie besprochen sein Smartphone auf mithören gestellt, deshalb bekamen sie jetzt auch alles mit, was gesprochen wurde. „Möchtest du was trinken? Kostet nichts extra.“

„Aaron“, unterbrach Johannes den Redeschwall des Klassenkameraden, „ich bin nicht hier, um mit dir etwas zu machen, was du in Wirklichkeit gar nicht willst.“

„Woher willst ausgerechnet du wissen, was ich will und was nicht?“, fragte der Sechzehnjährige trotzig und begann sich auszuziehen, als es an der Wohnungstür klingelte. „Verdammt, was wird hier gespielt!“ Aaron schmiss zornig seinen Schneetarnkombi auf den Boden, blickte zu seinem Klassenkameraden, dann zur Tür, wo es Sturm klingelte und wieder zu Johannes, sein Gesicht verlor alle Farbe. Noch einmal wanderte sein Blick zur Tür und wieder zurück. Seine Lippen formten ein tonloses „hilf mir“, ihm wurde schwarz vor Augen und er sank wie ein nasser Sack in sich zusammen.

*****

„Er wacht auf.“ Aaron Lange lag im Bett der Ferienwohnung und es war Johannes Selders Stimme, die er erkannte. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, wie er da hineingekommen war. Draußen war es bereits wieder hell – was war eigentlich los und wie lange hatte er geschlafen?

„Gut, ich geh dann mal rüber zu seinem Opa und sag ihm Bescheid, der war ja ganz krank vor Sorge“, sagte Raphael leise und verließ kurz drauf die Wohnung. Aaron blickte fragend in die Augen seines Klassenkameraden, was war nur passiert, das er hier im Bett aufgewachte und wie war er überhaupt hier reingekommen? Er erinnerte sich nur noch daran, dass er Jo auf dem Weihnachtsmarkt getroffen hatte und dann mit ihm zur FeWo seines Opas gegangen war. Er wusste noch, dass er als er den Schlüssel holte, mit dem Vater seines leiblichen Vaters ein paar Gläser Feuerzangenbowle getrunken hatte und danach fehlte ihm die Erinnerung.

*****

„Nein, bleib liegen, du hattest einen Schwächeanfall und hast fast eineinhalb Tage geschlafen“, klärte der dunkelhaarige Gymnasiast seinen Klassenkameraden auf und drückte ihn mit sanfter Gewalt aufs Nachtlager zurück, nachdem er versucht hatte aufzustehn.

„Aaron, was hat dieser Herbert mit die angestellt?“ Der Gefragte richtete sich erneut im Bett auf.

„Nichts, gar nichts“, log der Sechzehnjährige seinen Klassenkameraden an.

„Du brauchst nicht mehr zu lügen Aaron. Herbert Kaminski sitzt in Untersuchungshaft und kann dir nichts mehr tun.“ Der Schüler sah seinen Klassenkameraden zunächst ungläubig an, dann schossen erste Tränen in seine Augen, dann umarmte er Johannes dankbar, der sich diese Geste ruhig gefallen ließ.

„Danke“, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.

„Danke nicht uns, sondern bedank dich bei Laurin, sobald du ihn siehst“, begann Jo, „ohne ihn hätten wir wahrscheinlich noch längst nicht hinterfragt, was dich so verändert hat.“

„Aber wie seid …“, begann der Jugendliche.

„Dass irgendetwas nicht stimmt, hat die ganze Klasse ja mitbekommen. Du warst zuletzt oft übermüdet, deine aggressiv negative Einstellung zu Homosexuellen, die teuren Marken, die du seit einiger Zeit trägst, obwohl ihr von Hartz IV leben müsst. Das passte alles nicht zusammen Aaron. Und zuletzt das, was Laurin uns über dich erzählte …“

*****

Es war etwa 22:00 Uhr als Raphael, Erik und Mikel beobachteten, wie Jo Selders und Aaron Lange in der Ferienwohnung verschwanden. Was dort gesprochen wurde, hatten sie ja dank den Smartphones mit anhören können. Sie wollten gerade zur Wohnung rübergehen, als ein froschgrüner VW-Polo vor der FeWo anhielt, ein etwa vierzigjähriger Mann ausstieg. Dieser Typ war etwa 1,90 Meter groß und machte einen ziemlich erregten Eindruck auf die Jugendlichen.

„Was wird hier gespielt!“, drang Aarons erregte Stimme aus dem Lautsprecher von Raphaels Smartphone. Die drei Jugendlichen hörten, wie der Fremde Sturm klingelte und dann die aufgeregte Stimme von Johannes:

„Jungs ich brauche eure Hilfe – schnell!“

Erik und Mikel rannten sofort auf den Typen los und es dauerte keine zwei Sekunden, dann hatten sie ihn überwältigt und in den Schwitzkasten genommen.

„Lasst mich sofort los“, zischte er wütend und versuchte sich aus dem Griff zu lösen. Doch die beiden Jugendlichen taten ihm den Gefallen nicht.

„Erst werden Sie uns sagen, was Sie von unsrem Freund Aaron wollen“, zischelte Raphael.

„Das geht dich mal gar nicht an!“

„Ach, ich wusste gar nicht, dass wir bereits per Du sind“, stellte Raphael trocken fest, während Mikel den Mann durchsuchte und wenig später dessen Brieftasche in der Hand hielt, aus welcher er lediglich den Personalausweis zog, den er Raffi übergab.

„So, Herr Kaminski. Wir werden jetzt ganz ruhig hier warten, bis die Polizei eintrifft und dann können sie den Herren erzählen, warum Sie meinen Klassenkameraden schlagen und ihn zwingen auf den Strich zu gehen“, schoss der Jugendliche munter ins Blaue hinein, nachdem er die Adresse abgeglichen hatte unter der dieser Mann gemeldet war. Der schaltete auf stur und versuchte erneut sich aus dem Klammergriff von Mikel und Erik zu befreien. „Sie wollen also nicht warten?Dann muss ich wohl andere Seiten aufziehen“, ließ Raffi ruhig raus. Dann ballte er eine Faust, holte aus und versetzte Herbert einen gezielten Schlag auf die Zwölf. Danach ging er zum PKW rüber, öffnete die Heckklappe und holte aus dem Kofferraum das Abschleppseil heraus, welches er Erik und Mikel zuwarf um den Verdächtigen damit zu fesseln.

*****

In der Ferienwohnung hatte Johannes Aaron zwischenzeitlich aufs Bett gelegt und über den zentralen Notruf einen Notarzt und Polizei angefordert, die etwas zwanzig Minuten später eintrafen.

„Das war gute Arbeit Jungs, obwohl ich mir gewünscht hätte, ihr hättet mich vorher eingeweiht“, lobte Polizeihauptwachtmeister Selders seinen Sohn und dessen drei Freunde, als dieser ebenfalls am Einsatzort eingetroffen war.

„Sicher wäre das besser gewesen Vati, aber wir wollten doch zunächst wirklich sicher sein. Damit nicht weitere kostbare Zeit verloren ging.“

Als der Notarzt wenig später aus der FeWo heraustrat und dem Opa von Aaron mitteilte, dass es seinem Enkelsohn den Umständen entsprechend gut ginge, sodass er nicht ins Krankenhaus müsste, aber dass er halt Ruhe bräuchte, fiel dem alten Mann ein Stein vom Herzen. Herr Lange war eigentlich gerade auf dem Weg ins Bett, als die Sirenen losgingen und es wenig später an seiner Haustür klingelte und die Polizei vor ihm stand.

Er fiel buchstäblich aus allen Wolken, als er später durch Johannes und Raphael erfuhr, was seinem Enkel Aaron alles widerfahren war und machte sich schwere Vorwürfe, dass er nichts davon bemerkt hatte.

*****

„Raffi und ich haben abwechselnd bei dir gewacht und gestern war dein Opa bei dir, solange wir in der Schule waren. Ach ja Laurin lässt schöne Grüße ausrichten und er wünscht sich, dass du ihn bald mal im Krankenhaus besuchst.“

„Danke“, stammelte Aaron erneut, als Johannes seinen Bericht der Ereignisse beendet hatte.

„Aaron“, war das erste was der alte Herr Lange sagte, als er mit Raffi eintrat.

„Opa, es tut mir leid“, stammelte der Sechzehnjährige als sein Großvater ihn wenig später in die Arme schloss.

„Ist schon gut Junge und ich verspreche dir was. Sobald deine Mutti wieder nach Hause darf, zieht ihr beide bei mir ein. Ich habe genügend Platz und die Ferienwohnung gehört ab sofort dir.“

*****

Mittlerweile war es 17:00 Uhr geworden und Aaron fühlte sich fit genug, um seinen Freund Laurin in der Klinik zu besuchen. Schließlich so fand er, hatte er die letzten eineinhalb Tage wirklich mehr als genug geschlafen.

„Überraschung – guck mal, wen wir dir mitgebracht haben!“, riefen Johannes und Raphael aus, als sie gegen 18:00 Uhr in das gemeinsame Krankenzimmer von Malte Gruber und Laurin Peters traten. Herr Lange hatte sich spontan bereit erklärt, die Jungs zum Krankenhaus zu fahren und später auch dort wieder abzuholen. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um seine Tochter, Aarons Tante, zu besuchen, die unweit der Klinik wohnte.

„Aaaaron!“, rief Laurin aus und strahlte mit dem Freund um die Wette, der hinter den beiden Sechzehnjährigen ins Krankenzimmer getreten war, direkt zu ihm rüber ging und ihn vorsichtig umarmte.
Die beiden anderen gingen derweil zu Malte, bei dem wo so oft in letzter Zeit neben Ergün auch dessen Stiefvater Werner mit am Bett saß, der die beiden nach einer kurzen Begrüßung für ein Gespräch unter sechs Augen vor die Tür bat.

*****

„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Johannes und Raphael“, begann er kaum, dass sie draußen auf dem Gang standen, „Sie haben absolut richtig gehandelt, mein Verhalten war inakzeptabel, dass habe ich mittlerweile eingesehen und bin froh und erleichtert darüber, dass Malte mir zwar noch nicht ganz verziehen hat, aber bereit ist, mir die zweite Chance zu geben.“ In den nächsten Minuten entwickelte sich zwischen den Dreien ein ruhig sachliches Gespräch, welches darin gipfelte, dass man sich das ‚Du‘ anbot.

„Habt ihr zwischenzeitlich irgendwas Neues von Björn gehört?“ Jo und Raffi wussten ja aus erster Hand, das die Fahndung nach dem flüchtigen Jugendlichen bislang immer noch ohne zählbaren Erfolg verlaufen war. Diese Frage verneinte Henseleit.

„Ich kann nur hoffen, dass Björn doch noch zur Besinnung kommt und sich der Verantwortung für seine Taten freiwillig stellt, selbst wenn dies bedeutet, dass er dafür ins Gefängnis muss.“ Es kostete Henseleit viel Kraft und er kämpfte mit den Tränen, als er dies sagte. „Aber“, so führte er weiter aus, „ich werde auf keinen Fall zulassen, dass er mir meine Familie zerstört, das haben Malte und seine Mutter nicht verdient.“ Es waren harte Worte von einem Mann, der jahrelang nicht wahrhaben wollte, dass es sein größter Fehler war, dem leiblichen Sohn mehr zu Vertrauen als dem angeheirateten. „Malte bekommt Montag seinen Gehgips angepasst und darf die Klinik verlassen, dann wollen wir gemeinsam seine Mutter aus dem Reinhard Nieter Krankenhaus abholen, mit ihr essen gehen und anschließend zusammen nach Hause fahren“, schloss Werner nach etwa zehn Minuten.

*****

„Ich darf Weihnachten einen Tag zusammen mit Aaron und seinem Großvater verbringen und Silvester feiern wir auch zusammen“, sprudelte es auch Laurin heraus, als Werner, Johannes und Raphael wenig später ins Krankenzimmer traten.

„Und ihr vier seid zu Silvester auch eingeladen“, ergänzte Aaron, dem man die Erleichterung anmerkte, dass die Freundschaft zwischen dem kleinen Halbasiaten und ihm keinen Schaden genommen hatte. Klar Laurin und Malte würden wegen ihrer Verletzungen besonders aufpassen müssen, aber was machte das schon aus, wenn sie dafür mit guten Freunden ins nächste Jahr rüber rutschen könnten. Selbst Werner Henseleit, sah die Pläne der Jungs zum Jahresende positiv, so könnte er sich wenigstens mal wieder richtig um seine Frau und den Kleinen kümmern. Doch jetzt wollte er den sechs Freunden erst noch eine kleine Freude bereiten und eine Kleinigkeit für sie zum Essen besorgen.

„Au ja – schöne fette Döner, mit viiiel scharf“, hatten Laurin und Malte sich grinsend bestellt. Der Krankenhausfraß war zwar nicht ganz so schlecht wie sein Ruf, aber sie wollten doch endlich mal wieder etwas Vernünftiges zwischen die Zähne bekommen. Logisch, dass Ergün, Raffi und Jo sich diesem Wunsch uneingeschränkt anschlossen.

„Gemeinsam werden wir das schon packen, dem sterilen Mief hier zu Leibe zu rücken!“

Dies schafften die Jungs dann auch dermaßen gut, dass die Nachtschwester bei einem Kontrollgang, wegen der intensiven Knoblauchwolke rückwärts aus dem Zimmer flüchtete und mit einer Atemschutzmaske überm Gesicht zurückkehrte, was natürlich noch Monate später, für den LACHER im gesamten Klinikum sorgen sollte.

Sonntag, 10. März 2013

Eigentor?! 5



Kapitel 4: Schülerstreik, Tipprunde und andere Themen


Montagmorgen – der Alltag hatte sie wieder. Dies ist halt das Los aller Amateurfußballer, doch während viele von ihnen einem Beruf oder einer Ausbildung nachgingen, hieß es für die Juniorenspieler des FSV, sofern sie einen höheren Bildungsabschluss anstrebten, Tretmühle Schule. Und das war selbst für gute Schüler wie Johannes, Raphael und Ergün nach einem anstrengenden Wochenende wie dem gerade vergangenen – etwas Ähnliches, wie seelische Folter. Besonders wenn man, wie unsere drei Pokalhelden, in den ersten beiden Stunden Geschichte bei Herrn Wagner hatte. Silbergraue Halbglatze, eine dicke schwarze Hornbrille, die in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts modern gewesen sein mochte und eine Stimme, die so monoton und einschläfernd wirkte, dass man regelmäßig seine eingeschlafenen Füße beneidete.

Herr Wagner, der mit Vornamen Richard hieß, genauso klassisch wie sein Name, war auch sein Musikgeschmack (er liebte die Opern seines Namensvetters und wurde ebenfalls in Leipzig geboren); dieses Fossil von einem Lehrkörper besaß, wie es schien, ganz genau drei Anzüge, in den ‚Saisonfarben‘ grau, blaugrau und mausgrau, nebst Hemden und dazu passenden Krawatten. Mit seinen 65 Lebensjahren war er nicht nur der dienstälteste Lehrer, des im Jahre 1573 als Lateinschule von Fräulein Maria von Jever gegründeten Mariengymnasiums, sondern hatte auch schon die älteren Geschwister von Johannes und Raphael sowie mehrere Generationen angehender Abiturienten zuvor, beinahe zu Tode gelangweilt.

„Herzliches Beileid Brüderchen“, hatte Doreen Jo gewünscht, als dieser ihr zu Beginn des neuen Schuljahres berichtete, wer sie in der 10. Klasse in Geschichte unterrichten würde.

„Trägt er eigentlich immer noch, die hässliche schwarze Hornbrille und diese scheußlichen Anzüge, die nur noch zusammenhalten, weil auch Tineola bisselliella (Kleidermotten) so etwas wie Ehre besitzen?“, fragte sie damals im Scherz. Und als ihr Bruder, Doreen diese in seinen Augen modischen Ausfälle, bestätigte, konnte er beinahe durchs Telefon ihre entgleisenden Gesichtszüge ‚sehen‘.

So einfallsreich wie die Wahl seiner Dienstkleidung, fielen auch stets die gewählten Lehrmethoden aus, von denen lediglich für Klausuren abgewichen wurde. In der ersten Stunde bedeutete dies somit grundsätzlich Stillarbeit. Das zu erarbeitende Thema wurde direkt nach Betreten des Klassenraumes an die Tafel geschrieben und danach setzte er sich auf seinen Stuhl hinter dem Lehrerpult. Holte belegte Brote und eine Thermokanne aus seiner alten Aktentasche von ‚Anno Zwieback‘, breitete alles gemütlich aus, zückte die Tageszeitung und ließ sein Gesicht schweigend dahinter verschwinden.

*****

„Was glaubt ihr, wer sind wohl die Schwulies in Reihen der B1, ob die wohl auch bei uns auf der Schule oder sogar in unserer Klasse sind?“ Die Tipprunde war eröffnet und der diese Frage stellte, war niemand anders als Aaron Lange, Klassensprecher der 10a, also der Klasse zu der auch Ergün, Johannes und Raphael gehörten. Aaron war beliebt, klar sonst wäre er bestimmt nicht gewählt worden, aber die Art und Weise, wie er dieses abfällige Wort eben gebrauchte, fanden Ergün, Raffi und Jo abstoßend, oberflächlich und kränkend. Klar, es war ihnen schon bewusst, dass sie als noch nicht einmal öffentlich geoutete Schwule, nicht überall auf Gegenliebe stoßen würden. „Und welche Spieler sind es nun?“, fragte Lange unseren drei Freunden direkt zugewandt.

„Du bist sooo oberflächlich Lange. Ich kann es echt nicht fassen, dass ich dich gewählt habe.“

„Uuuuuh -- Yvonne, jetzt hab ich aber Angst“, spottete der Klassensprecher mit symbolisch gebrochenen Handgelenken, „schon mal einen Gedanken daran verschwendet, dass dein Russe dir in den Ausschnitt gekotzt hat, weil er ein verkappter Hinterlader ist?“

„Es reicht Lange – ja wir haben schwule Spieler in der Mannschaft, aber geht dich das etwas an? Und überhaupt was würdest du sagen, wenn Johannes und ich die betreffenden Spieler wären?“ Raphael war echt pissed, am liebsten hätte er Aaron am Kragen gepackt und diesem Vollhonk noch ganz andere Dinge an den Kopf geworfen.
„Ne – ihr beiden doch nicht“, stammelte der Klassensprecher der 10a kopfschüttelnd vor sich hin.

‚So ein Idiot‘, schoss es Johannes durchs Hirn, er hätte Raphael am liebsten auf der Stelle in den Arm genommen und vor versammelter Klasse geküsst. Dies wäre dann allerdings der völlig falsche Zeitpunkt gewesen, weil sich jetzt immer mehr Schüler um ihre Gruppe herum drängten und von den drei FSV-Spielern wissen wollten, wie es Malte Gruber und Laurin Peters geht, die ja beide seit Samstag im Krankenhaus lagen.

„Sollten wir nicht langsam mal in den Unterricht gehen?“, wollte Ergün Özil gerade vorschlagen, als im Obergeschoss des Neubaus ein Fenster aufgerissen wurde und der Stufensprecher der ‚Elfer‘, mit einer Flüstertüte bewaffnet, wegen des akuten Lehrermangels für heute den allgemeinen Schülerstreik ausrief, was von Seiten der Schülerschaft mit großem Jubel begrüßt wurde.

Schülerstreik bedeutete allerdings auch, dass sie als ‚normale‘ Schüler die Räumlichkeiten der Lehranstalt, in denen es trotz des milden Winterwetters ja wesentlich wärmer sein würde, nicht betreten durften. Aber was tat man als Schüler nicht alles dafür, um die Schulleitung davon zu überzeugen, dass es doch an der Zeit wäre, endlich noch ein paar neue Lehrer oder Referendare einzustellen, um die Einhaltung der Stunden- und Lehrpläne, auch bei Erkrankungen von mehreren Lehrern gleichzeitig, noch problemlos gewährleisten zu können.

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„Wenigstens müssen wir in den nächsten Stunden die dummen Sprüche von diesem Honk nicht ertragen“, stellte der sechzehnjährige Halbtürke zufrieden fest, als sich der gleichaltrige Klassenvertreter der 10a, murrend Richtung Sitzungsraum der Schülervertreter verabschiedet hatte.

„Aber das uns Wagner heute erspart bleibt, finde ich ja noch einen Zacken besser, obwohl zwei Stunden Schönheitsschlaf im Klassenraum auch nicht zu verachten gewesen wären“, stellte Raffi trocken fest, wofür er die Lacher der Klassengemeinschaft erntete.

„Aber was ist denn jetzt mit Laurin und Malte?“, wiederholte ein Schüler aus der Parallelklasse seine Frage.

„Die werden wohl beide erst im neuen Jahr wieder zur Schule kommen. Der Laurin hat zwei gebrochene Rippen und Maltes rechtes Bein ist glatt gebrochen“, klärte Ergün ruhig auf, bevor er sich mit Raffi und Jo von der Gruppe absetzte um ihnen von den weiteren Entwicklungen in Maltes zu Hause berichten zu können.

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Was die Jugendlichen eigentlich fast nicht mehr geglaubt hatten, war nämlich am späten Sonntagnachmittag eingetreten. „Also wenn ich es nicht selbst mitbekommen hätte, würde ich es nicht glauben wollen“, begann der Halbtürke zu erzählen. „Ihr wisst ja, dass ich gestern wieder bei Malte und Laurin in der Klinik war.“

„Jetzt mach mal hin Digga, wir haben zu X-Mas noch was anderes vor“, drängten die sechzehnjährigen Gymnasiasten ihren Klassenkameraden schmunzelnd. Doch Ergün ließ sich nicht von seinem Kurs abbringen, schlussendlich kannte er seine beiden Freunde ja nicht erst seit gestern und fuhr deshalb seelenruhig mit seinem Bericht fort:

„Also – ich hatte Malte gerade zur Begrüßung geküsst, oh man – hat der rosige, zarte Lippen, als die Zimmertür geöffnet wurde und sein Stiefvater völlig übermüdet, mit fetten Jahresringen unter den Augen, ins Zimmer trat.“

‚Offensichtlich hatte da wohl jemand eine nicht ganz so ruhige Nacht‘, schoss es Johannes und Raphael durch die Hirnwindungen. Wie von den beiden vermutet hatte Werner Henseleit, tatsächlich am Samstag die ganze Nacht nicht schlafen können und dadurch erneut Zeit über alles nachzudenken, bereits als er vorm Spiel in die Kabine gestürmt kam, wäre er zumindest bereit gewesen, sich für sein Verhalten auf der Pressekonferenz, bei seinem Stiefsohn zu entschuldigen. Die Ohrfeige, die Malte dem Endvierziger versetzte bewies diesem endgültig, dass er als Erziehungsberechtigter wohl alles falsch gemacht hatte, was man nur irgendwie falsch machen konnte. Er habe also in diesem Sinne doppelt versagt.

„Bitte glaub mir, dass mir unendlich leid tut was ich dir alles an den Kopf geworfen habe. Es tut mir auch leid, dass ich mich immer wieder von Björn hab einwickeln lassen und ihm mehr geglaubt habe als dir.“ Werner spielte nervös mit seinen Fingern als er dies sagte.

„Das klingt jetzt ja alles ganz schön Werner“, begann Malte mit fester Stimme und hielt dabei Ergüns Hand, als ob er zusätzlichen Halt suchen würde. „Aber was ist, wenn Björn wieder auftaucht und erneut versucht dich auf seine Seite zu ziehen?“ Henseleit senkte den Kopf und schüttelte diesen unter Tränen.

„Nein, diesmal nicht Malte – Björn hat einmal zu oft versucht unsere Familie zu zerstören. Diesmal wird er seine Strafe bekommen und auch absitzen müssen, dass verspreche ich dir. Keine Spenden mehr, bloß damit er wieder ungeschoren davonkommt.“

„Du hast gesagt, dass ich sehen kann wo ich bleibe, was ist also, wenn ich jetzt nicht mehr nach Hause zurückkehren und lieber in eine betreute Wohngruppe ziehen möchte?“ Werner blickte seinen Stiefsohn aus verzweifelten Augen an.

„Dann könnte ich dir das noch nicht einmal verübeln. Trotz allem möchte ich dich bitten, uns beiden noch einmal eine Chance zu geben – alleine um deiner Mutter Willen, die das bestimmt nicht begreifen würde.“

*****

„Malte tat am Ende so, als ob er erst noch überlegen müsste. In seinen Augen konnte ich aber längst erkennen, dass er seine Entscheidung bereits gefällt hatte. Sobald er das Krankenhaus verlassen darf, wird er nach Hause zurückkehren und Werner somit die Chance geben. Aber bei dem kleinsten Anzeichen, dass sein Stiefvater das was er sagte nicht ernst meint, zieht er schnellstmöglich aus und in eine betreute Wohngruppe“, schloss Ergün seinen Bericht nach etwa zwanzig Minuten. Dies war für Johannes und Raphael eine nachvollziehbare Entscheidung ihres Teamkameraden und Mitschülers, schließlich verlangte der Sechzehnjährige nichts unmögliches.

„Hey, sollen wir euch dreien was vom Bäcker mitbringen?“, rief einer ihrer Klassenkameraden zu ihnen herüber und kam auf ihr nicken zu ihnen herüber.

„Klasse Idee Chrischi, drei ‚Coffee to go‘ und Schokocroissants wären denke ich jetzt genau das Richtige“, bedankten sich die drei Freunde und händigten dem 1,80 Meter großen braunhaarigen Mitschüler, der eigentlich auf die Namen Christoff-Maria Bluhme getauft worden war, passendes Kleingeld aus.

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Vor der Schule gab es zwischenzeitlich mehrfach schwache Versuche durch das Lehrerkollegium, den Schülerstreik zu beenden indem sie mit nachsitzen und Elternbriefen drohten.

„Lachhaft – wo wollen sie denn die ganzen Arbeitslosen hernehmen, um die Briefe zu schreiben?“, hielten die älteren Jahrgänge lachend dagegen. Alleine die Portokosten hätten in diesem speziellen Fall ein gehöriges Loch in die Kassen der Lehranstalt gefressen. „Werfen Sie uns doch alle in den Karzer, wie Anno Toback – ach ‘ne den gibt’s ja nicht mehr.“

„Übrigens toller Anzug Herr Wagner – ne echt mal – aber gibt es den auch in neu?“, lederten die Gymnasiasten auch den Dinosaurier des Lehrerkollegiums ab.

So ging es munter bis 11:30 Uhr weiter, bis sich das Fenster im Obergeschoss erneut geöffnet wurde, um alle Schüler in die Aula zu bitten, wo die Schulleiterin Frau Dr. Irmtrud Bechtler einige wichtige Ankündigungen zu machen wünschte.

„Zunächst einmal möchte ich mich für den friedlichen Verlauf Ihres Streiks bedanken. Es waren recht kurze, aber zu jedem Zeitpunkt sachlich und fair geführte Verhandlungen, die ich mit Ihren Schülervertretern führen durfte. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich persönlich dafür stark machen werde, damit weitere Lehrkräfte eingestellt werden.“ Applaus und Jubelrufe zwangen die Schulleiterin, ihre Ausführungen kurz zu Unterbrechen. „Desweiteren möchte ich Ihnen davon Mitteilung machen, dass mich der Kollege Wagner bereits in der vergangenen Woche in einem persönlichen Gespräch um seine Entlassung aus dem Lehramt gebeten hat, weil er sich dieser Herausforderung nicht mehr gewachsen fühlt. Diesem Wunsch werde ich zum Jahresende entsprechen, sodass wenn Sie nach den Weihnachtsferien zurückkommen, ein jüngerer Kollege oder eine Kollegin an seine Stelle treten wird.“

An dieser Stelle beendete Frau Dr. Bechtler nicht nur ihre Ansprache, sondern auch den heutigen Schultag, um dem Kollegium Gelegenheit zu geben, die restlichen Tage bis vor den Ferien so durchzuplanen, damit es bis zu den Ferien keine unnötigen Unterrichtsausfälle mehr geben würde.

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Während dieser Versammlung waren Johannes und Raphael zwei Schüler aus der 12. aufgefallen, die Händchen hielten, sich immer wieder verliebte Blicke zuwarfen und sich sogar einmal ganz kurz küssten, was die um sie herumsitzenden Mitschülerinnen und Schüler nicht im geringsten zu stören schien. „Wartet mal bitte“, forderten Raphael und Johannes die angehenden Abiturienten beim Verlassen des Schulgeländes auf.

„Ihr seid doch Raphael und Johannes die Fußballer richtig? Was gibt‘s denn?“

„Jup. Könnten wir uns zusammen ins Schlosscafe setzen, wir möchten das nicht unbedingt hier draußen besprechen“, baten sie die älteren Mitschüler, welche sich als Erik Baumgart und Mikel Schumann vorgestellt hatten.

„Klar kein Problem“, entgegnete der mit 1,85 Metern kleinere, dunkelblonde Erik. Die beiden älteren Jungs hatten schon eine Vermutung, worum es gehen könnte, schließlich war es auch für sie vor drei Jahren kein leichter Schritt gewesen, sich in ihrer Klasse zu outen.

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„Ihr beiden seid ein Paar richtig?“, fragte Mikel direkt, nachdem sie sich im Cafe gemeinsam an einen Tisch gesetzt hatten.

„Ja sind wir aber …“, zeigten sich die beiden Fußballer sichtlich erstaunt.

„Man sieht es euch an, wir erkennen unsere Schweinchen“, erklärte Erik schmunzelnd. Nebenbei erfuhren Jo und Raffi jetzt, dass es noch einige mehr schwule und lesbische Pärchen auf dem Gymnasium gab.

„So und jetzt raus mit der Sprache, was habt ihr auf dem Herzen?“, forderte der gerade vor kurzem 18 Jahre gewordene Mikel unsere Helden auf.

„Naja, wir sind jetzt schon ein paar Monate zusammen, daheim und in der eigenen Vereinsmannschaft haben wir Rückendeckung. Wir würden es jetzt auch gerne in unserer Klasse erzählen, aber naja - nachdem was unser Klassensprecher Aaron heute früh abgelassen hat, sind wir uns nicht mehr so sicher, ob diese Idee wirklich die beste ist“, versuchte Johannes ihre Situation zu erklären.

„Lange die alte Schrankschwuchtel? Macht euch um den mal keinen Kopp, den haben wir am Samstag im Twister mit einem Tyen aufm Klo erwischt. Der ist so warm, der kann mit einer flachen Hand sein Hemd bügeln.“

‚Wie jetzt, Aaron Lange macht heimlich mit Jungs rum und markiert in der Schule den Weiberhelden und Schwulenhasser?‘, begann es in den Köpfen der Sechzehnjährigen zu arbeiten.

„Der wollte uns sogar Geld geben, bloß damit wir niemandem was davon erzählen“, setzten Erik und Mikel grinsend obendrauf. Je länger dieses Gespräch dauerte, umso mehr tauten Johannes und Raphael, den beiden älteren gegenüber auf. Es tat ihnen gut einmal mit erfahreneren Gleichgesinnten über ihre speziellen Sorgen sprechen zu können. Am Ende tauschten sie mit den neu gewonnenen Freunden sogar Handynummern aus und verabredeten sich für Donnerstagabend auf dem Weihnachtsmarkt.