Kapitel 2: Gerüchte, Halbwahrheiten und Facebook
Nachdem sich am
vorigen Tag die Ereignisse in der friesischen Kleinstadt, zumindest aus Sicht
unserer drei Freunde, überschlagen hatten, kehrte auch am Freitag noch keine
Ruhe ein.
Natürlich hatte sich
die Sache mit Verheugens Unfall wie ein Lauffeuer herumgesprochen und es war
auch irgendwie durchgedrungen, dass er als B-Junioren-Trainer entlassen worden
war, was auch gleichzeitig zu den wildesten Gerüchten Anlass gab, obwohl die
wenigsten überhaupt wussten, warum. Aber so ist das nun einmal, jahrelang
herrscht beinahe Totentanz und dann von einer Sekunde auf die nächste passiert
etwas und jeder will mitreden. Ob jetzt beim Bäcker an der Ecke, beim
Markendiscounter, ja selbst auf dem Wochenmarkt rund um den Kirchplatz, wurde über
dieses Thema heiß diskutiert. Schließlich sollte die Mannschaft am Samstag im
Pokal gegen den VFL antreten und jetzt war noch nicht einmal klar, ob die
Partie überhaupt angepfiffen werden könnte, da es noch keine offizielle Meldung
über einen möglichen Nachfolger für Verheugen gab.
Das Zuschauerinteresse
an den Spielen der B – Junioren, war in der vergangenen Saison durch ihre
Erfolge, unter Trainer Roland Hackenberg, größer gewesen als jenes an den
Begegnungen der Erwachsenen. Im Durchschnitt kamen so viele Zuschauer zu den
Begegnungen, dass man zuletzt in das Stadion am Schützenhof umziehen musste.
Daran hatte auch Verheugen mit seinen zweifelhaften Methoden nichts ändern
können. Auf dem Platz bildeten die Jungs um den ehemaligen Mannschaftskapitän
Johannes Selders eine geschlossene Einheit, dies war auch nach der
Verabschiedung von Hackenberg, den seine Jungs nur den Roland nannten, der aus
beruflichen Gründen ausschied, ihr Schlüssel zum Erfolg geblieben, auch wenn
sie in dieser Saison mit zwei Unentschieden und einer Auswärtsniederlage in die
Punktrunde starteten, wobei der ‚Schleifer‘ den Jugendlichen gegenüber auch die
Remise’s als Niederlagen verkaufte, bloß um sie schwer bepackt durch die
Botanik hetzen zu können.
*****
„Was ist jetzt
eigentlich mit Morgen, spielt ihr oder wird die Partie abgesagt und verlegt?“
Diese Frage hörten die
Zwillingsbrüder Dennis und Fabian Kleinschmidt, an diesem Vormittag nicht zum
ersten Mal, während sie am Stand des landwirtschaftlichen Betriebes ihrer
Eltern diverse Produkte wie Rindersalami aus dem eigenen Hofladen verkauften.
„Wir haben noch nichts
Gegenteiliges gehört, die Teambesprechung ist erst um 15:30 Uhr“, spulten die
Abwehrspieler zum gefühlten Eintausendstenmal die durch den Vorstand, für
solche Fälle, ausgegebene Sprachregelung ab, bevor sie sich den nächsten Kunden
zuwandten.
Auch Ergün, der
eigentlich nur schnell zum Bäcker und danach direkt zu Johannes und Raphael
wollte, durfte sich dieser Frage mehr als nur einmal stellen und fühlte sich
langsam wie die Bandansage einer überlaufenen Hotline. Was dachten sich die
Leute eigentlich dabei, sah er etwa aus wie die Auskunft? Wenigstens hatte der
Sportreporter vom örtlichen Tageblatt Verständnis für ihn und gab ihm sogar
einen Becher heiße Schokolade aus, als er diesen ebenfalls in der kleinen
Bäckerei antraf.
„Alles ziemlich nervig heute
oder?“, versuchte der Endvierziger langsam ein Gespräch mit dem B-Jugendspieler
in Gang zu bringen.
„Nein -- Eberhard,
selbst wenn du auf Knien vor mir rutschen würdest, ich kann dir auch nicht mehr
sagen als die Zwillinge“, kam Özil der Frage des Lokalreporters, die dieser
eigentlich stellen wollte, zuvor. „Aber ja -- du hast recht. Dieser ganze
Wirbel, der um den Unfall gemacht wird, geht mir gerade extremst auf die Eier.“
Dass der älteren Dame
am Stehtisch neben ihnen nach dieser Aussage, des jungen Türken, ihr
Käsesahnestück fast wieder aus dem Gesicht gefallen wäre, hatte der
Sechzehnjährige zwar mitbekommen, interessierte ihn aber nicht sonderlich. Für
einen Weg, den er sonst in maximal fünf Minuten zurücklegte, benötigte er
diesmal satte dreißig. Alles bloß, weil er alle paar Meter angehalten und mit
derselben Frage traktiert wurde.
„Bleib einfach locker
und lass die Leute reden.“ Doll kannte den jungen Mann, genau wie die meisten
anderen der Spieler, seit der C-Jugend und wusste daher, wie er mit ihm
umzugehen hatte. In der vergangenen Saison hatte er das Team zu seinen
wichtigsten Auswärtsspielen begleitet und dadurch für die Onlineausgabe des
Blattes wenige Stunden nach Spielschluss Exklusivreportagen bringen können.
„Eigentlich haste ja
Recht, aber das heute ist echt Hardcore“, reagierte Ergün lächelnd und trank
seine heiße Schokolade aus. Der Reporter schlug dem jungen Mann noch
freundschaftlich auf die Schulter und fragte, bevor er in die Redaktion
zurückkehrte, noch einmal wegen des Termins für eine Homestory über den talentierten
Abwehrspieler an.
„Klar bleibt’s dabei --
nächste Woche Dienstag um 16 Uhr bei mir daheim“, bestätigte Erügn Özil mit
extrabreitem Grinsen in Gesicht schnappte sich die Brötchen, die gekauft hatte
und machte sich endlich auf den Weg zu seinen Freunden.
*****
Dem Hexenkessel
Markplatz war Ergün wenig später glücklich entkommen. Allerdings benötigte er
dennoch weitere dreißig Minuten und mehr als 20 verschiedene
‚Expertenmeinungen‘ über den Unfall und Gründe für die Trainerentlassung,
welche er sich alle anhören ‚durfte‘, bis er gegen 11 Uhr das Haus der Familie
Selders erreichte. Dort hatten Jo und Raffi alles andere
als eine friedliche Nacht hinter sich.
Zunächst hatten die
Sechzehnjährigen die halbe Nacht wach gelegen und weil ihnen die bevorstehende
Vernehmung bei der Polizei, wegen der Falschaussage Verheugens, einfach nicht wieder
aus dem Kopf gehen wollte. Und als sie endlich doch eingeschlafen waren, klingelte
ab 4 Uhr morgens mehrfach Johannes‘ Handy mit unterdrückter Rufnummer und
irgendwer stöhnte ihnen die Ohren voll und stieß mit verstellter Stimme wüste
Beschimpfungen aus.
Letzten Endes hatte Jo
sein mobiles Kommunikationsgerät genervt ausgeschaltet, bevor sie gegen 6 Uhr
morgens wieder einschliefen. Dafür schlug dann um 9:30 Uhr Raphaels Smartphone
Alarm und sie fanden eine SMS mit unbekannter Kennung, welche außer einem
Facebooklink noch das Wort ‚SCHWUCHTELN‘ enthielt.
*****
schwule kiebitze? nein
danke!
heute,
3:45 Uhr
ihr
glaupt echt nich‘ was ich gestern abent gesehen hap! zwei spiler aus unsere B1
manschaft haben im kino rumgeknutscht und sich gegenseitig befumelt. mir wirt
jezt noch ganz schlechd, wen ich daran denk. wenn ihr wiesen volt wer die
schwuchteln sind leikt diesen beitrag. für 250 leiks lade ich die beweißfotos
hoch!:)
100
Leuten gefällt das
.
.
.
isch ficke deine mutta ha, ha, klar immer her damit, die mach isch platt, isch schwör.
heute,
8:30 Uhr * gefällt mir
.
weichspüler96 Sagt mal, geht’s noch? Knipst mal
eure Murmeln an! Schwule sind auch nur Menschen ob jetzt Fußballer oder nicht.
Wenn die Jungs sich lieben na und?
heute,
9:00 Uhr * gefällt mir
Johannes und Raphael
zitterten am ganzen Körper, nachdem sie dem Link gefolgt waren und auf einer
Facebookseite landeten, wo es eindeutig um sie ging. Von 75 Kommentaren, die
seit dem Start abgegeben wurden, waren lediglich 20 die den bisher noch
Unbekannten (also ihnen), Mut zusprachen und den Initiator versuchten, in seine
Schranken zu weisen. Jo wurde beim Lesen dieser verbalen Angriffe dermaßen
schlecht, dass er es gerade noch rechtzeitig aufs Klo schaffte, wo er sich
mehrfach übergeben musste.
*****
„Moin ich wollte mit Jo
und Raffi frühstücken!“, begrüßte Ergün Frau Selders freundlich und hielt gut
gelaunt die Brötchentüte hoch. Der Abwehrspieler war heute noch nicht im
Internet gewesen, daher hatte er auch die Mail, mit dem Link zu Facebook, noch
nicht in seinem Postfach gefunden und wusste deshalb auch noch nichts von
diesem Cybermobbingversuch.
„Die sitzen bei meinem
Mann in der Küche, aber ich glaube kaum, dass sie da jetzt große Lust drauf
haben“, deutete Jos Mutter niedergeschlagen an. Die Eltern hatten ebenfalls
ziemlich schockiert reagiert, als Raphael ihnen die Seite des sozialen
Netzwerkes zeigte. Wobei der Vater des sechzehnjährigen Fußballers sich aber
relativ schnell fing und den Link an seine Kollegen weiterleitete, damit dieser
Schmutz so schnell als nur irgendwie möglich zunächst gesperrt, später
endgültig aus dem Netz entfernt und dem Täter dafür auf die sprichwörtlichen
Finger geklopft werden könnte.
„Wer meinem Sohn so
etwas antut, der bekommt es auch mit mir zu tun“, war die erste Reaktion,
nachdem er sich ein einen Überblick verschafft hatte und dann die bereits
beschriebenen Schritte einleitete.
„Was‘n mit euch los? Ihr
seht ja weißer als ‘ne frisch gestrichene Wand“, stellte Ergün Özil fest, als
er wenig später in die Küche trat. Zwar hatten sich die Jugendlichen von dem
ersten Schrecken erholt, aber nach den Anrufen, die ihnen in der vergangenen
Nacht kostbare Stunden gekostet hatten, war es nun einmal nicht so leicht,
wieder zur Tagesordnung überzugehen. Deshalb zeigten sie Ergün die Seite, der
wollte sich gerade einen Überblick verschaffen, als es erneut an der Haustür
klingelte.
*****
„Moin zusammen entschuldigt bitte die
Störung, aber ich hab da etwas, das euch eventuell interessieren könnte“,
grüßte Malte Gruber in die Runde und legte ein Handy auf den Tisch, was dem
rothaarigen Mittelfeldspieler mehr als nur einen fragenden Blick einbrachte.
„Also nicht das Handy, sondern die Bilder da drauf könnten interessant für euch
sein“, klärte er auf, und übertrug diese kurz drauf per Bluetooth auf den
Rechner. „Ich muss schon sagen, ihr seid ein wirklich süßes Pärchen“, haute der
Grünäugige schmunzelnd raus.
„Öhm Malte, das ist
wirklich nicht so, wie es aussieht, aber wie kommst du überhaupt an diese
Bilder?“
„So, so, dann sind das
also nicht eure Zungen, die da so innig miteinander verknotet sind?“, haute er schmunzelnd
raus. Denn er war nicht nur auf dem Platz, jemand der Situationen schnell
erfasste und so war es ihm natürlich nicht entgangen, dass zwischen Johannes
und Raphael seit einiger Zeit mehr lief, als nur eine reine Freundschaft unter
Jungs. Die Bilder hab ich meinen Stiefbruder abgenommen. Der Schwachstromstecker
wollte sie schnell auf meinem Rechner hochladen, als ich heimkam.“
„Wie von deinem
Stiefbruder? Der war doch gar nicht im Kino“, stellte Ergün verwirrt fest.
„Deshalb sagte ich ja
auch Stief- und nicht Halbbruder. Ich hab die von Björn einkassiert dem
Schwachstromstecker.“
„Du redest jetzt aber
nicht von Björn Henseleit oder?“, fragten die Drei wie aus einem Munde.
Irgendwie standen sie gerade völlig auf der Leitung.
„Ich geb es ja nicht
gerne zu, wer redet schon gerne über einen Gehirnakrobaten, mit dem IQ einer
Wanderameise.“
„Und die hat er dir so
einfach gegeben?“ Irgendwie war das alles gerade zu viel Input auf einmal.
„Nein, aber nachdem ich
ihm die Nase ein wenig begradigt habe, hat er eingelenkt, bevor er heulend zur
Arbeit geflüchtet ist. Ich habe ihn natürlich den ersten Schlag machen lassen,
beziehungsweise er versuchte es.“ Erst jetzt merkten die drei Freunde, wie
wenig sie wirklich über ihren Teamkameraden wussten. Das mussten sie unbedingt
ändern und heute war die beste Gelegenheit damit anzufangen. Weil Herr Selders
sich aber langsam ein wenig hinlegen wollte, rief er nur noch kurz seine
Kollegen an, um ihnen mitzuteilen, wer hinter dieser unschönen Facebooksache
steckte, und verabschiedete sich anschließend Richtung Bett.
*****
„Danke Malte, du hast
uns echt den Arsch gerettet, denn so öffentlich wollten wir das mit uns eigentlich
noch nicht machen“, bedankte sich das junge Pärchen überschwänglich, als sie
gemeinsam mit Cola anstießen.
„Schon gut Männers,
jetz kriegt euch mal wieder ein. Die Rückendeckung der gesamten Mannschaft habt
ihr jedenfalls.“ Malte erzählte ihnen jetzt von einer Rundrufaktion, die er
gestartet hatte. Er hatte bei einem Kumpel übernachtet und wollte eigentlich
nur kurz online seine Mails checken, dabei entdeckte der Rothaarige die E-Mail,
welche sein hohler Stiefbruder auch zu ihm geschickt hatte, ohne groß darüber
nachzudenken. So wusste er dann schon mal, dass es außer ihm noch zwei weitere
Teamkameraden gibt, die offensichtlich auf Jungs stehen. Wobei er sich allerdings
noch nicht sicher war, ob er es nicht irgendwann doch mit einer Freundin
probieren würde. Erst als sein Handy klingelte, unterbrach der Jugendliche
seine Erzählungen und ging genervt ran. „Ja Werner? Jetzt bleib mal sachlich
und brüll nicht so rum, ich bin nicht taub. Was? Was willst du? Ne sorry das
seh ich nicht ein, und wenn die Polizei dreimal bei dir im Laden steht, wenn
DEIN Sohn Mist baut, dann sollte ER auch dafür grade stehn. Wer hat denn die
Schule geschmissen -- er oder ich? Wer ist heute wieder mal zu spät in der
Werkstatt angetreten -- er oder ich? Hast du dich gar nicht gefragt, warum er
nicht pünktlich war? Nicht? Gut dann sag ichs dir. Weil er wieder einmal
irgendeine Ische die halbe Nacht gevögelt hat. Weil er unbedingt zwei meiner besten
Kumpels telefonisch belästigen musste, achja und weil er sie unbedingt über
Facebook bloßstellen musste, nur weil sie schwul sind und sich im Kino geküsst
haben.
Die Dresche hat er von
mir bezogen, weil er in MEINEM Zimmer Bilder von den beiden ins Internet
hochladen wollte und dies von MEINEM neuen PC aus, den ich von MEINEM eigenen Geld,
welches ich außerhalb der Schulzeit nebenbei verdiene, angeschafft habe. Es
wird Zeit der Realität endlich in die Augen zu sehen, Björn ist kriminell und
nicht erst seit gestern --“
Malte fühle sich schon
länger wie eine Art männliches Aschenputtel und sein Stiefvater hatte bisher
nicht das Geringste dafür getan, was dieses Gefühl hätte ändern können. Björn
wurde, egal was er auch anstellte, bevorzugt behandelt und bekam von seinem
Erzeuger die Hand vor den Arsch gehalten. Auch diesmal versuchte der
Geschäftsmann wieder, die Argumente des B-Jugendspielers als unwichtige ‚Kindereien‘
abzutun.
„Nein, nein und nochmals nein, ich
werde das nicht zurücknehmen. Cybermobbing ist KEIN KINDERKRAM, sondern eine
ernst zu nehmende Angelegenheit. Muss es wirklich erst Tote oder Verletzte
geben, bevor du begreifst, was hier eigentlich los ist? DEIN Sohn ist eine
tickende Zeitbombe, begreif das endlich und handle danach!“ Malte hatte die
Nase gestrichen voll davon, dass Werner sein Argumente nicht akzeptieren und
ernst nehmen wollte, dabei waren Polizei und Jugendamt, alleine in den
vergangenen vier Jahren, mehr als einmal bei ihnen daheim gewesen, weil Björn
‚auffällig’ geworden war. Aber immer wieder kam er letzten Endes mit einem
blauen Auge davon, weil der liebe Papi dann einfach mal sein Portmonee oder das
Scheckbuch zückte und für öffentliche Einrichtungen oder Vereine Geld spendete.
„Jetzt hat er einfach aufgelegt, aber das kenn ich schon gar nicht mehr anders.
Die Wahrheit will er nicht hören“, kommentierte der Jugendliche seufzend, bevor
er sein Handy beiseitelegte.
*****
Ergün, Raphael und
Johannes hatten während der fünf Minuten, die dieses recht hitzig geführte
Gespräch gedauert hatte, erstaunt und zugleich schockiert zugehört. Solche
verbalen Schlagabtäusche hatten sie bisher für Erfindungen aus dem Reich der
Talk- und Realityshows eines bekannten privaten Fernsehsenders gehalten.
„Warum guckt ihr denn
so ungläubig. Jetzt erzählt mir nicht, dass bei euch daheim nicht auch manchmal
die Fetzen fliegen“, beendete der rothaarige Sportler die beklemmende Stille, nachdem
sich die Jungs nach zehn Minuten immer noch eisern anschwiegen.
„Ist das normal bei
euch?“, fragte Ergün, der als Erster seine Stimme wiedergefunden hatte.
„Ja -- leider“, begann
der Grünäugige zu erzählen. Seinen richtigen Vater hatte Malte nie
kennengelernt, der hatte seine Mutter sitzen lassen, als sie ihm erzählte, dass
sie schwanger ist. Sechs Jahre lang lebten sie alleine und es reichte gerade
für das Nötigste. „Naja und irgendwann kam dann Werner mit seinem Sohn zu uns
nach Hause. Erst fand ich das ja auch ganz toll, besonders weil Mutti viel mehr
lachte als früher und wir auch sonst viel mehr hatten. Björn war ja damals
schon acht Jahre alt und ich fand die Vorstellung klasse, plötzlich so was Ähnliches
wie ‘nen großen Bruder zu haben.“
Die drei Fußballer
mussten mehrfach schwer schlucken, als ihr Mannschaftskamerad weitererzählte: „Naja,
und dann als Björn Vierzehn wurde, begann das ganze Elend. Er fing an zu kiffen,
klaute alles, was nicht irgendwie angebunden war und prügelt sich seitdem Hirnlos
durch die Gegend. Erinnert ihr euch noch daran -- als ich vor zwei Jahren mit
einem blauen Auge zum Training kam und behauptete ich wär in der Dusche
ausgerutscht?“
Ihm schossen Tränen in
den Augen, als er dies fragte, und brauchte ein paar Minuten, bevor er
weitererzählen konnte. Natürlich erinnerten die Gefragten sich noch lebhaft
daran, weil Malte damals mit einer coolen Sonnenbrille ankam, die er erst nicht
absetzen wollte. „In Wirklichkeit war es so, dass Björn mir eine gelangt hatte,
nachdem, weil -- weil ich mich geweigert hab sein stinkendes Ding in den Mund
zu nehmen.“ Sein Stiefbruder hatte ihn dabei erwischt, dass er einen von den
nackigen Boys in der BRAVO zu intensiv angesehen hatte und seine rechte Hand
dabei vorne in der Hose hatte. „Jetz‘ mach schon du kleine Schwuchtel oder ich
erzähl überall rum, was du heimlich für Sauereien machst, schrie er mich an.
Aber ich hab mich weiterhin geweigert und dann hat er zugeschlagen.“ Obwohl
Malte damals schon zwei Jahre Judo machte, um Körper und Geist zusätzlich zu
trainieren, war er in dieser Situation einfach zu geschockt und überfordert um
sich gegen den Schlag wehren zu können. Seit jenem Tag hatte der Jugendliche
den allerletzten Funken Respekt vor seinem Stiefbruder verloren. „Seit diesem
Tag trainierte ich noch verbissener und jetzt bin ich ihm auch an Stärke und
Schnelligkeit überlegen.“
„Aber was ist mit
deiner Ma, was sagt die eigentlich dazu?“, fragten Johannes und Raphael den
Mittelfeldspieler.
„Mutti weiß von alledem
nichts. Leider ist sie gerade wieder mal in der Psychiatrischen in Wilhelmshaven.
Sie leidet seit Jahren an einer psychischen Erkrankung, deshalb versuche ich
das alles, möglichst von ihr fernzuhalten. Naja und Werner will der Wahrheit
nicht in die Augen sehen und hat mir sogar schon einmal damit gedroht, mich in
eine Pflegefamilie zu stecken, wenn ich nicht endlich damit aufhöre, den Björn
ständig schlecht zu machen. Und ganz ehrlich, wenn Mutti und Henning nicht
wären, dann wäre ich schon längst da raus und in eine Wohngruppe gezogen“,
schloss Malte Gruber seine Ausführungen.
So ging der Vormittag
zu Ende, und nachdem sie alle zusammen bei Selders Mittag gegessen hatten, Malte
war natürlich ebenfalls eingeladen, zockten die Freunde noch ein wenig Playsi
um sich abzulenken, bevor sie Nachmittags zur Mannschaftsbesprechung mit anschließender
Pressekonferenz in den ‚Schützenhof‘ mussten.
*****
„Wie ihr ja sicher mitbekommen
habt, waren gestern durch den Unfall eures Trainers einige Entscheidungen zu
treffen. Entscheidungen, die uns nicht leicht gefallen sind, nachdem uns auch
gestern erst durch Zufall bekannt geworden ist, wie Trainer Marco Verheugen
euch behandelt hat.“ Nach dieser Eröffnung durch den Vereinspräsidenten ging
ein Raunen durch die Menge. War die Begegnung etwa von offizieller Seite
abgesagt worden?
„Jetzt seid mal still und hört weiter zu“, rief Johannes seine
gleichaltrigen Kameraden zur Ruhe und übergab das Wort wieder an Präsident
Zabel, der sich bei dem ehemaligen Mannschaftskapitän bedankte und dann
fortfuhr:
„Jungs ich bin
enttäuscht von euch, hättet ihr schon früher ein Wort gesagt, dann hätten wir
Verheugen sofort entlassen und uns nach einem neuen Übungsleiter für euch
umgesehen--“ An dieser Stelle ließ Werner eine kleine Pause entstehen und
blickte mit ernster Miene in die Runde. „Aber wir haben eine Lösung gefunden,
die euch hoffentlich gefallen wird, denn wir haben gleich zwei talentierte
Kräfte gefunden, die euch bis zum Saisonende durchs Training begleiten werden.“
Wieder wurde gemurmelt und die Spieler blickten sich fragend an. „Um es kurz zu
machen -- Johannes Selders und Raphael Senner kommt ihr bitte zu mir nach
vorne?“
Als die beiden
Sechzehnjährigen dieser Aufforderung folgten, öffnete sich die Saaltür leise
und Sebastian Böhm der Trainer der ersten Herrenmannschaft trat leise ein,
während die Fragezeichen in den Augen der Teamkameraden, bis auf drei, immer
größer wurden. Und dies waren die von Raffi, Jo und Ergün Özil, weil sie ja
bereits wussten, wie es jetzt weitergehen würde. „Hiermit präsentiere ich euch
die jungen Männer, die euch Sauhaufen als Teamchefs künftig Beine machen werden“,
verkündete Werner Zabel schmunzelnd und überließ den beiden Jugendlichen alle
weiteren Erklärungen.
„Nein Jungs ihr träumt
wirklich nicht“, begann Johannes nervös lächelnd, „Raffi und ich können es ja
selbst noch nicht ganz glauben.“ Nach diesem Satz trommelten achtzehn paar
Hände frenetisch auf die Tischplatten.
„Weil wir aber ja noch
keinen Trainerschein haben, benötigen wir zur Unterstützung einen dritten Mann,
der uns mit Rat und Tat zur Seite steht. Basti kommst du bitte zu uns?“,
verkündete ein strahlender Raffi. Erst jetzt bemerkten die anderen den weiteren
Gast und begrüßten diesen mit einem kräftigen MOIN, MOIN. Als die Menge sich
wieder beruhigt hatte, richtete auch der Neuankömmling kurz ein paar Worte an die
Mannschaft:
„Jungs, ihr seid
Momentan das stärkste Team, dass der FSV zu bieten hat und ich freue mich auf
die Zusammenarbeit mit euch. Ich bin geholt worden, um eure beiden Coaches auch
an euren Spieltagen beratend zu Unterstützen.“ Nach dieser Erklärung wurde die
Versammlung für ein paar Minuten unterbrochen und das neue Trainergespann zog
sich für zwanzig Minuten zurück.
*****
Als sie wieder
eintraten, hatten sie auch Bartek Majer dabei, der vor einem Monat von
Verheugen aus den Team geworfen wurde, weil er sich geweigert hatte, nach einem
im Training verschossenen Elfmeter, 150 Liegestütze über einer Dreckpfütze zu
machen. Nachdem dieser vom gesamten Team begrüßt worden war und bei seinen
Kameraden Platz genommen hatte ergriff Raffi erneut das Wort: „Kommen wir jetzt
zu einigen personellen Entscheidungen, wir haben Bartek vorhin angerufen und
ihn gefragt, ob er wieder für uns spielen möchte. Wie er sich entschieden hat,
könnt ihr ja sehen. Bartek ist aber noch aus einem weiteren Grund hier, er wird
für Pawel die wichtigste Entscheidung ins polnische zu übersetzen.“
„Pawel, du bist ja ein
lieber Kerl und wir mögen dich wirklich“, begann Jo ruhig zu erklären, „aber
wir haben auch alle gemerkt, dass du dich als Mannschaftskapitän einfach nicht
wohlfühlst, weil du noch nicht so gut deutsch sprichst.“ Hier machte er eine
kurze Pause in der Bartek das eben Gesagte übersetzte. Pawel nickte eifrig und
seine Augen strahlten sogar Erleichterung aus. Dann stand er kurz auf und
fragte: „Ich durfen aber trotzdem weiter Spieler bei euch?“ „Klar darfst du,
nur nicht als Kapitän“, antworteten Raffi und Jo lächelnd. Diese Hürde war also
genommen, jetzt sollte die Katze aus dem Sack. Die Zwei hatten ja dank der
schlaflosen Nacht auch einige Zeit zum Überlegen, wer der neue Spielführer sein
soll. „Willst du oder soll ich?“, fragte Raffi seinen Freund. „Lass es uns
gemeinsam sagen.“ Die beiden zählten auf drei und dann nannten sie den Namen
des Spielers: „Unser neuer Spielführer ist -- Malte Gruber! Herzlichen
Glückwunsch!“ Malte wusste gar nicht, was er dazu sagen sollte.
Erst als Pawel
ihm die Spielführerbinde übergab, fand er langsam seine Sprache wieder und
bedankte sich schluchzend. „Also das mit den Spontanreden üben wir aber noch
mal, in der Pressekonferenz um 17 Uhr haste die erste Gelegenheit dafür“,
scherzten Raffi und Jo, bevor Präsident Zabel eine Runde Getränke für alle
ankündigte.
*****
Darf ich bitte auch
etwas sagen?“, fragte Sergey, nachdem sie alle versorgt waren, worauf Johannes
und Raphael ihrem russischstämmigen Teamkameraden das Wort überließen. „Also
wir haben ja heute Vormittag durch Facebook erfahren, dass wir zwei
homosexuelle Spieler in der Mannschaft haben.“ Den beiden frisch ernannten
Teamchefs rutschten bei dieser Bemerkung die Herzen in die Hose und sie
verloren ein wenig ihrer gesunden Gesichtsfarbe.
„Wir waren alle richtig
schockiert darüber --“, setzte der Spieler fort. ‚Schluss, aus, vorbei! Ende
der Fahnenstange! Aus die Maus!‘ „dass es immer noch Menschen gibt, die sich so
verachtend über Fußballer äußern, bloß weil sie halt anders lieben als die
Masse.“ Ihre Gesichtszüge gewannen an Farbe zurück. „Deshalb haben wir etwas
vorbereitet, was wir gerne morgen vor dem Spiel durch Malte verlesen lassen
möchten.“
„Ähm, dürfen wir das
vorher mal lesen?“, fragten Rafael und Johannes mit einem dicken Kloß im Hals.
Auch Sebastian Böhm und Präsident Zabel wurden jetzt hellhörig, weil sie von
dieser Sache im Internet zumindest schon kurz gehöret hatten, selbst wenn dort
keine Namen gefallen waren.
„Logo dürft ihr“, kam
es vielstimmig zurück, während der Russe ihnen das Schreiben einhändigte.
„Das haben wir für euch
gemacht“, flüsterte Sergey ihnen ins Ohr, bevor er sich lächelnd umdrehte und
zu seinem Platz am Tisch zurückkehrte. Eingerahmt von Basti und ihrem Präsi,
die sich links und rechts neben sie gestellt hatten, blickten sie ohne ein Wort
zu sagen in die Runde und wussten nicht, was sie jetzt machen sollten.
„Lesen! Lesen! Lesen!“,
skandierten die Spieler lautstark und trommelten dabei mit ihren Handflächen
auf die Tischplatten ein. ‚Das haben wir für euch gemacht‘, hallte es leise in
den Ohren von Raffi und Jo wider. Trainer Böhm und Präsident Zabel legten ihnen,
um sie innerlich zu stärken, demonstrativ eine Hand auf die Schulter. Die
beiden Jugendlichen blickten ihre Nebenmänner kurz fragend an, worauf diese ihnen
aufmunternd zunickten. Den beiden Sechzehnjährigen schlugen ihre Herzen bis zum
Hals, als sie sich endlich trauten ihre Blicke dem, von allen Spielern
unterschriebenen, Papier in ihren Händen zuzuwenden. Mittlerweile war es im
Raum so still geworden, dass man Ameisen oder Regenwürmer husten hören könnte,
wenn es in der kalten Jahreszeit und so kurz vor Weihnachten welche geben
würde.
Wir
die Spieler der B1 Junioren des FSV, eine Mannschaft bestehend aus vielen
Nationalitäten und Hautfarben, wenden uns heute an Sie, um zu erklären, das wir
entschieden gegen Rassismus, Mobbing und jede Form der Gewalt und Verfolgung
sind.
Fußball
ist für uns mehr als nur ein Ballspiel und die meisten von uns spielen seit
vielen Jahren zusammen. Uns ist dabei völlig egal, ob jemand schwarz oder weiß,
gelb oder lila ist. Bei uns spielen Juden, Christen und Moslems, Heterosexuelle
und auch Homosexuelle.
Es
ist uns egal, woran jemand glaubt oder wie er liebt. Wir sind und bleiben trotzdem,
wie es ein großer deutscher Nationaltrainer mal nannte:
ELF
FREUNDE
Und
deshalb sagen wir ganz entschieden NEIN zu Fremden- oder Schwulenhass.
*****
Immer wieder überflogen
sie die Worte, welche ihre Teamkameraden gefunden hatten, um ihnen in dieser
Form eine Stimme zu verleihen. Johannes und Raphael hatten sich bisher weder im
Verein noch in ihrer Mannschaft geoutet und doch wussten sie, auch ohne das ihre
Namen genannt worden waren, um welche Spieler es sich in dem Facebookeintrag
handelte. Erneut blickten sie in die Runde, sollten sie es offiziell machen,
sollten sie vor ihren Mannschaftskameraden, zu ihrer Sexualität und ihrer Liebe
stehen? Zu verlieren hatten sie doch nichts, im Gegenteil sie konnten nur noch
gewinnen, wenn sie es den Jungs sagten. Jeder Einzelne von ihnen hatte es sich
verdient, die Wahrheit aus ihrem Mund und nicht über Dritte zu hören. Die zwei
lächelten sich an und nahmen Blickkontakt zu ihren erwachsenen Nebenmännern auf
die ihnen ermunternd zunickten, dann richteten sie sich noch einmal aus und den
Blick in die Runde der B – Junioren gerichtet fing Raffi an: „Wir wollten
eigentlich nicht, dass ihr es so erfahrt, wie es heute Morgen geschehen ist.“
„Aber nun ist es einmal
passiert und eigentlich wusstet ihr es ja schon, auch ohne das irgendwelche
Namen genannt wurden“, zog auch Jo den verbalen Kaugummi noch mal in die Länge.
„Boah jetzt macht es
doch nicht so spannend, wir wissen doch sowieso, dass ihr zusammen seid“, kam
es vielstimmig lachend zurück.
„Also gut ihr habt ja
gewonnen“, entgegneten Jonas und Raphael lachend, „wir sind schwul und das ist
auch gut so.“
„STIMMT! Mehr Bräute
für uns!“, haute Sergey breit grinsend raus und warf sich dabei in die Brust.
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