Kapitel 1: Von Null auf Hundert
„Mist verpennt!“, murmelte sich der sechzehnjährige Johannes Selders in den spärlich wachsenden Teenagerbart und saß kerzengerade im Bett. „Wenn ich heute schon wieder zu spät zum Training erscheine, lässt mich ‚Der Schleifer‘ am Wochenende im Pokalspiel gegen Osnabrück gleich auf der Bank.“
Klar Fußball ist kein Chorknabenspiel,
das wusste der Jugendliche, seit er mit sieben zum ersten Mal als Spieler im
FSV-Trikot auf dem Rasen stand. Aber seit Marco Verheugen vor einem Jahr, die
Mannschaft und somit das Training übernommen hatte, war der Ton doch wesentlich
rauer geworden und sowohl Jo, wie ihn seine Kumpels nennen, als auch seine
Teamkameraden fühlten sich immer öfter wie in einer Bundeswehrkaserne, aber
keiner traute sich etwas dagegen zu sagen, weil das ja unmännlich wäre. Für
Verheugen zählte nur der Erfolg, alles andere als ein Sieg war inakzeptabel und
führte zu Strafen. Wie seine Spieler darüber denken oder wie sie sich dabei
fühlen, interessierte den Schleifer Null.
Früher hatten sie immer richtig
Spaß am Lauftraining im Upjeverschen Forst, aber wozu mussten sie jetzt nach
jedem verlorenen Punktspiel wie Soldaten mit ‚Sturmgepäck‘ durch die Botanik
traben? Wenn der Teenager an die ‚lustigen‘ Sprüche ihres Übungsleiters während
des Trainings dachte, wurde ihm jedes Mal schlecht. Einmal hätte er sich sogar
am liebsten auf den ‚Schleifer‘ geworfen und ihn dafür verprügelt, wenn Ergün
und Raphael ihn nicht zurückgehalten hätten.
„Wenn ihr nicht richtig in die
Zweikämpfe einsteigt, bewerfe ich euch mit Wattebäuschen bis ihr blutet -- ihr
Schrankschwuchteln!“
Das tat besonders Johannes weh und dies nicht
nur, weil er danach die Stollen von Ergün in die Kniekehlen bekommen hatte. Gut
der gleichaltrige Türke hatte sich als der Schleifer es nicht mitbekam sofort
bei ihm entschuldigt und eigentlich waren sie ja schon seit Ewigkeiten Freunde,
deshalb hatte er ihm dieses Foul auch sofort verziehen, aber dieser Spruch von
Verheugen hatte einen wunden Punkt in Johannes berührt, den er seit langem
geheim hielt.
*****
Recht früh, Johannes war gerade
zwölf geworden, bemerkte er immer stärker, dass ihn viel mehr die Gehänge
seiner Mannschaftskameraden beim Duschen interessierten. Sicher, Mädchen fanden
die meisten anderen Jungs in dem Alter auch doof. Dieses ständige sinnlose
Gekichere und Getuschel, sobald ein männliches meist etwas älteres Wesen in
ihrer Nähe war. Und dann noch dieses blöde immer zu zweit aufs Klo gehen
wollen. Was gabs denn bei denen schon so Besonderes zu sehen! Okay, Yvonne und
Sarah hatten damals schon ein bisschen was in der Bluse, was gewissen weiblichen
Rundungen ähnlich sah, aber sonst? Richtig alberne Hühner eben. Und daran hatte
sich in den folgenden Jahren nach Jos Einschätzung auch herzlich wenig
geändert.
Ne, dann doch lieber so etwas, wie vorigen
Monat an seinem sechzehnten Geburtstag, als Raffi bei ihm übernachtet hatte, da
war zwischen den beiden nämlich etwas passiert, was ihr Trainer auf keinen Fall
erfahren durfte:
Mittlerweile
war es 23 Uhr geworden und außer Raphael, waren alle anderen Gäste bereits nach
Hause gegangen.
„War
an sich ‘ne geile Party heute“, befand Raffi anerkennend, „aber das sich ausgerechnet
unser Russe wieder derartig abschießen musste, dass er seiner Schnalle in den
Ausschnitt gekotzt hat, das fand ich ja mal voll daneben.“
„Fand
ich auch. Aber Yvonne ist ja eigentlich selbst schuld. Warum musste sie Sergey
auch unbedingt, mit Wodka Red Bull abfüllen“, stellte der Gastgeber schmunzelnd
fest, während sie die letzten Partyspuren beseitigten.
„Stimmt
auch wieder. Oh man, bloß gut, dass wir morgen spielfrei haben. Der Schleifer
würde am Rad drehen, wenn er davon was mitbekommen hätte.“
„Hör
mir mit dem auf, der Arsch hat es neuerdings ja wohl voll auf mich abgesehen.
Bloß weil ich ihm als Spielführer einmal die Meinung gesagt hatte, als er Timo
aus dem Spiel nehmen wollte, bloß weil der diese unhaltbare Bananenflanke von
dem Auricher Stürmer in die Maschen rauschen ließ“, erinnerte sich der
Sechzehnjährige an den entwürdigendsten Augenblick in seiner Spielerkarriere.
Timo
durfte dadurch zwar weiterspielen und sie hatten das Spiel am Ende deutlich mit
5:1 gewonnen, aber Verheugen hatte ihn (Johannes) dafür zur Halbzeit
rausgenommen, in der Mannschaftskabine zusammengefaltet und Pawel als neuen
Mannschaftskapitän bestimmt. Ausgerechnet den Polen, der damals gerade erst
seit zwei Monaten ins Team gehörte, kaum deutsch spricht und noch nicht einen Pflichtspieltreffer
erzielt hatte.
„Wenn
er wenigstens dich genommen hätte, dass hätte ich ja noch verstanden, aber
Pawel?“, stellte Hannes mit traurigem Blick fest.
„Och
Mensch Jo, jetzt mach dir doch nicht die ganze schöne Stimmung kaputt. Der hat
Pawel doch nur genommen, weil er noch keine Widerworte geben kann“, versuchte
der blondhaarige Mittelfeldspieler seinen Sandkastenfreund wieder aufzurichten
und schloss ihn tröstend in die Arme. „Und jetzt lass uns hochgehen in dein
Zimmer, ich hab da noch eine besondere Überraschung für dich.“
Johannes
fühlte sich sichtlich wohl in den Armen des blauäugigen, flachsblonden, jungen
Mannes, mit dem er seit Kindergartentagen befreundet war. Sie waren zusammen
eingeschult worden und fingen auch gleichzeitig mit Fußballspielen an. So war
es völlig normal und logisch, dass sie gemeinsam den Kiebitzen beitraten. Seit
Jahren verbrachten sie fast jeden Tag zusammen und wenn Jo nicht schwarzhaarig,
grünäugig und stolze 10 Zentimeter größer wäre, könnte man die gleichaltrigen
Jungs glatt für Brüder halten. Beide verband aber noch mehr als ihre
Freundschaft, denn sowohl Johannes, als auch Raphael hatten noch ältere
Geschwister, die allerdings beide schon länger volljährig waren und nicht mehr
bei ihren Eltern lebten. Doreen und Torsten kannten sich ebenfalls seit dem
Kindergarten und waren jetzt seit gut einem Jahr miteinander verlobt. Es wäre
also durchaus so etwas wie eine Familientradition, wenn auch die beiden Jungs
irgendwann ein Paar werden würden.
Zumindest
bei den Eltern würden die beiden Jugendlichen damit nicht auf Probleme stoßen,
dies hatten diese ihren Söhnen bereits einmal erklärt, obwohl sich weder der
eine noch der andere vor ihnen bisher als schwul geoutet hatte. Naja Eltern,
hier speziell die Mütter, spüren und wissen ja eh, was mit ihren Kindern los ist, bevor diese überhaupt auf die Idee
kommen mit der Sprache rauszurücken. Aber dies steht ja auf einem ganz anderen
Blatt.
Weder
Johannes noch Raphael hatte bisher über seine Gefühle für den anderen
gesprochen und dennoch wussten beide auch ohne große Worte was und wie sie
füreinander empfanden. Sie wussten von sich, dass sie von der sogenannten Norm
abwichen, um es kurz zu machen, dass sie halt auf Jungs und hier speziell auf
den jeweils gegenüberstehenden standen. Bisher fehlte ihnen lediglich der Mut
dazu, ihre Gefühle offen dem anderen einzugestehen und sich auf ihre Liebe
zueinander einzulassen. Aber genau dies sollte sich für Jo und Raffi an diesem
Abend noch grundlegend ändern, denn sie hatten beide ordentlich Schmetterlinge
im Bauch und ihre Herzen schlugen ihnen bis zum Hals, als sie sich voneinander
lösten.
„Gute
Idee -- lass uns hochgehen“, säuselte Johannes mehr, als das er es deutlich
aussprach. Er hätte nämlich noch stundenlang stehend, in Raphaels Armen
verbringen und in dessen blauen Augen versinken können.
*****
„So
jetzt mach mal deine Augen zu, aber du darfst erst wieder gucken, wenn ich es
dir erlaube“, sonderte der Flachsblonde schmunzelnd ab und nestelte einen
Werder Bremen Schal aus seinem Rucksack, nachdem der 190 Zentimeter große
Schwarzhaarige seiner Aufforderung gefolgt war. Dieses Spielchen trieben die
Jungs an ihren Geburtstagen ja schließlich nicht erst seit gestern, genau
deshalb wollte Raffi seinem Freund und Mannschaftskameraden diesmal richtig die
Augen verbinden, was er diesem auch sagte.
„Och
Menno Raffi, tut dat Not?“, nölte Jo und versuchte dabei extrem ‚verschnupft‘
zu klingen.
„Ja,
tut et“, lautete die trockene Antwort, des Gefragten und wenig später stand das
Geburtstagskind mit verbundenen Augen in seinem eigenen Zimmer und wusste
nicht, was er davon halten sollte. Raphael dagegen wusste ganz genau, was er
wollte, deshalb drehte er Jos Anlage auch schön laut auf. Es hat eben Vorteile,
in einem Einfamilienhaus Gast zu sein und sturmfreie Bude zu haben, weil
Johannes‘ Eltern bis zum nächsten Nachmittag, dessen große Schwester Doreen und
ihren Verlobten (also Raffis Bruder Torsten), in Oldenburg besuchten.
Während
jetzt die Akkustikversion des Justin Bieber Songs ‚Baby‘ aus den Lautsprechern
dröhnte (auch wenn das jetzt total schwul klingen mag, aber schließlich sind
sie es ja auch, die beiden mochten die Songs des süßen Kanadiers) und Johannes
nichts anderes übrig blieb, als gute Miene zu machen, grinste sich Raphael
einen Wolf, beförderte eine Flasche Glenmorangie samt passenden Whiskybechern
auf den Tisch des Hauses, schlich sich dann hinter den Rücken seines Freundes
umarmte ihn von hinten und blies diesem vorsichtig seinen Atem in den Nacken. Dem
Sechzehnjährigen stellten sich die Nackenhaare auf, als er den warmen Luftzug
spürte und das kribbeln in seinem Bauch, steigerte sich dabei ins
unermessliche. Am liebsten hätte Johannes sich jetzt umgedreht und Raffi auf
die Lippen geküsst, allerdings traute er sich nicht, diesen ersten Schritt zu
machen. Warum sollte es dem Blondschopf in diesem Augenblick besser ergehen,
als seinem ‚blinden‘ Freund? Auch in seinem Bauch tobten Schmetterlinge ohne
Ende um die Wette und er hätte Jo am liebsten umgedreht um dessen rosige
Lippen, mit seiner Zunge zu umspielen, doch auch ihn verließ vorerst der Mut
und so ließ er von ihm ab, schlich, zur Anlage, biss sich dabei kurz auf die
Unterlippe und stellte diese wieder leiser (also die Anlage, nicht die Unterlippe
*gg*).
„So
du darfst die Augenbinde jetzt wieder abnehmen“, nuschelte Raphael verlegen und
ließ seinen Blick zu Boden sinken, als Johannes der Aufforderung gefolgt war
und seinen Blick zunächst auf den Tisch und dann auf seinen Freund lenkte, der mit
hängenden Schultern bei der Anlage stand und dem ein tiefer Seufzer entfuhr.
„Cool
Whisky und so ein edler Tropfen, wo haste den denn her?“, wollte er gerade
sagen, als ihm das seltsame Verhalten seines alten Kumpels auffiel. „Och Mensch
Raphael, was ist denn auf einmal los mit dir?“, fragte er stattdessen und
forderte den Sechzehnjährigen auf zu ihm zu kommen. „Ist doch alles gut“,
flüsterte er und zog Raffi langsam in seine Arme. Als die beiden sich tief in
die Augen blickten, schlossen sie beinahe gleichzeitig ihre Augen und ihre
Köpfe kamen sich ganz langsam immer näher. Was dabei in den Köpfen und Körpern
vor sich ging, kann sich wohl jeder vorstellen, der schon einmal richtig
verliebt war. Der Puls raste wie der eines Marathonläufers, ihre Herzen
schlugen ihnen bis zum Hals und die Schmetterlinge in ihren Bäuchen drehten
eine Ehrenrunde.
„Ich
liebe dich Raphael Senner“, hauchte Jo, bevor sich ihre Lippen endlich
berührten und diesmal ihm ein Seufzer entfuhr. Seit Jahren hatte er von diesem
Augenblick geträumt und jetzt war er endlich Wirklichkeit geworden. Zunächst
nur vorsichtig und dann immer fordernder umspielten sich ihre Lippenpaare, bis
beide wie auf Befehl ihre Lippen ein Stück öffneten, um auch ihre Zungen an
diesem Erlebnis Anteil nehmen zu lassen. Es war für beide das erste Mal und sie
genossen es aus tiefstem Herzen, mit der Zungenspitze in den Mundraum des
Partners einzudringen um diesen zu Ergründen.
„Ich
liebe dich auch Johannes Selders“, gestand der blonde Jüngling fünf Minuten
später Atemlos, bevor sie sich nebeneinander auf die Couch setzten, sich einen
Schluck von dem Malt eingossen und mit diesem aus zwei Gründen anstießen. Und
die hatten sie ja ohne Zweifel, denn erstens war Johannes Geburtstag noch nicht
vorbei und zweiten hatten sie sich endlich ihre Liebe eingestanden und sich
sogar richtig geküsst.
*****
Als ‚Baby‘ von J.B. erklang, wurde
Johannes je aus seinen Erinnerungen gerissen. Er streckte sich noch mal kurz,
dann griff er neben sich nach seinem Smartphone und erkannte sofort, dass es
ein Anruf, von Raphael war.
„Hey Schatz“, hörte er die Stimme
seine Freundes, „bist du schon unterwegs?“
„Nein, bin noch daheim. Die Schule hatte
mich heute dermaßen geschlaucht, dass ich mich nur kurz aufs Bett hauen wollte
und wohl fest eingepennt bin.“
„Gut du brauchst dich nicht zu
beeilen, ‚Der Schleifer‘ hatte einen
kleinen Unfall mit seinem Van und das Training fällt heute aus“,
verkündete Raffi grinsend.
„Na das sind ja Neuigkeiten,
geschieht dem Arschloch mal ganz recht, bleibt es eigentlich dabei, dass du
heute bei mir pennst? Morgen is doch schulfrei und da könnten wir doch heute mal
wieder schön ins Kino. Der Hobbit läuft in Willihaven.“
„Klaro, ich pack nur schnell meine
Sachen, schwing mich auf den Roller und bin in 20 Minuten bei dir“, brabbelte
Raffi glücklich vor sich hin, bevor sie das Gespräch beendeten.