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Sonntag, 10. März 2013

Eigentor?! 5



Kapitel 4: Schülerstreik, Tipprunde und andere Themen


Montagmorgen – der Alltag hatte sie wieder. Dies ist halt das Los aller Amateurfußballer, doch während viele von ihnen einem Beruf oder einer Ausbildung nachgingen, hieß es für die Juniorenspieler des FSV, sofern sie einen höheren Bildungsabschluss anstrebten, Tretmühle Schule. Und das war selbst für gute Schüler wie Johannes, Raphael und Ergün nach einem anstrengenden Wochenende wie dem gerade vergangenen – etwas Ähnliches, wie seelische Folter. Besonders wenn man, wie unsere drei Pokalhelden, in den ersten beiden Stunden Geschichte bei Herrn Wagner hatte. Silbergraue Halbglatze, eine dicke schwarze Hornbrille, die in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts modern gewesen sein mochte und eine Stimme, die so monoton und einschläfernd wirkte, dass man regelmäßig seine eingeschlafenen Füße beneidete.

Herr Wagner, der mit Vornamen Richard hieß, genauso klassisch wie sein Name, war auch sein Musikgeschmack (er liebte die Opern seines Namensvetters und wurde ebenfalls in Leipzig geboren); dieses Fossil von einem Lehrkörper besaß, wie es schien, ganz genau drei Anzüge, in den ‚Saisonfarben‘ grau, blaugrau und mausgrau, nebst Hemden und dazu passenden Krawatten. Mit seinen 65 Lebensjahren war er nicht nur der dienstälteste Lehrer, des im Jahre 1573 als Lateinschule von Fräulein Maria von Jever gegründeten Mariengymnasiums, sondern hatte auch schon die älteren Geschwister von Johannes und Raphael sowie mehrere Generationen angehender Abiturienten zuvor, beinahe zu Tode gelangweilt.

„Herzliches Beileid Brüderchen“, hatte Doreen Jo gewünscht, als dieser ihr zu Beginn des neuen Schuljahres berichtete, wer sie in der 10. Klasse in Geschichte unterrichten würde.

„Trägt er eigentlich immer noch, die hässliche schwarze Hornbrille und diese scheußlichen Anzüge, die nur noch zusammenhalten, weil auch Tineola bisselliella (Kleidermotten) so etwas wie Ehre besitzen?“, fragte sie damals im Scherz. Und als ihr Bruder, Doreen diese in seinen Augen modischen Ausfälle, bestätigte, konnte er beinahe durchs Telefon ihre entgleisenden Gesichtszüge ‚sehen‘.

So einfallsreich wie die Wahl seiner Dienstkleidung, fielen auch stets die gewählten Lehrmethoden aus, von denen lediglich für Klausuren abgewichen wurde. In der ersten Stunde bedeutete dies somit grundsätzlich Stillarbeit. Das zu erarbeitende Thema wurde direkt nach Betreten des Klassenraumes an die Tafel geschrieben und danach setzte er sich auf seinen Stuhl hinter dem Lehrerpult. Holte belegte Brote und eine Thermokanne aus seiner alten Aktentasche von ‚Anno Zwieback‘, breitete alles gemütlich aus, zückte die Tageszeitung und ließ sein Gesicht schweigend dahinter verschwinden.

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„Was glaubt ihr, wer sind wohl die Schwulies in Reihen der B1, ob die wohl auch bei uns auf der Schule oder sogar in unserer Klasse sind?“ Die Tipprunde war eröffnet und der diese Frage stellte, war niemand anders als Aaron Lange, Klassensprecher der 10a, also der Klasse zu der auch Ergün, Johannes und Raphael gehörten. Aaron war beliebt, klar sonst wäre er bestimmt nicht gewählt worden, aber die Art und Weise, wie er dieses abfällige Wort eben gebrauchte, fanden Ergün, Raffi und Jo abstoßend, oberflächlich und kränkend. Klar, es war ihnen schon bewusst, dass sie als noch nicht einmal öffentlich geoutete Schwule, nicht überall auf Gegenliebe stoßen würden. „Und welche Spieler sind es nun?“, fragte Lange unseren drei Freunden direkt zugewandt.

„Du bist sooo oberflächlich Lange. Ich kann es echt nicht fassen, dass ich dich gewählt habe.“

„Uuuuuh -- Yvonne, jetzt hab ich aber Angst“, spottete der Klassensprecher mit symbolisch gebrochenen Handgelenken, „schon mal einen Gedanken daran verschwendet, dass dein Russe dir in den Ausschnitt gekotzt hat, weil er ein verkappter Hinterlader ist?“

„Es reicht Lange – ja wir haben schwule Spieler in der Mannschaft, aber geht dich das etwas an? Und überhaupt was würdest du sagen, wenn Johannes und ich die betreffenden Spieler wären?“ Raphael war echt pissed, am liebsten hätte er Aaron am Kragen gepackt und diesem Vollhonk noch ganz andere Dinge an den Kopf geworfen.
„Ne – ihr beiden doch nicht“, stammelte der Klassensprecher der 10a kopfschüttelnd vor sich hin.

‚So ein Idiot‘, schoss es Johannes durchs Hirn, er hätte Raphael am liebsten auf der Stelle in den Arm genommen und vor versammelter Klasse geküsst. Dies wäre dann allerdings der völlig falsche Zeitpunkt gewesen, weil sich jetzt immer mehr Schüler um ihre Gruppe herum drängten und von den drei FSV-Spielern wissen wollten, wie es Malte Gruber und Laurin Peters geht, die ja beide seit Samstag im Krankenhaus lagen.

„Sollten wir nicht langsam mal in den Unterricht gehen?“, wollte Ergün Özil gerade vorschlagen, als im Obergeschoss des Neubaus ein Fenster aufgerissen wurde und der Stufensprecher der ‚Elfer‘, mit einer Flüstertüte bewaffnet, wegen des akuten Lehrermangels für heute den allgemeinen Schülerstreik ausrief, was von Seiten der Schülerschaft mit großem Jubel begrüßt wurde.

Schülerstreik bedeutete allerdings auch, dass sie als ‚normale‘ Schüler die Räumlichkeiten der Lehranstalt, in denen es trotz des milden Winterwetters ja wesentlich wärmer sein würde, nicht betreten durften. Aber was tat man als Schüler nicht alles dafür, um die Schulleitung davon zu überzeugen, dass es doch an der Zeit wäre, endlich noch ein paar neue Lehrer oder Referendare einzustellen, um die Einhaltung der Stunden- und Lehrpläne, auch bei Erkrankungen von mehreren Lehrern gleichzeitig, noch problemlos gewährleisten zu können.

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„Wenigstens müssen wir in den nächsten Stunden die dummen Sprüche von diesem Honk nicht ertragen“, stellte der sechzehnjährige Halbtürke zufrieden fest, als sich der gleichaltrige Klassenvertreter der 10a, murrend Richtung Sitzungsraum der Schülervertreter verabschiedet hatte.

„Aber das uns Wagner heute erspart bleibt, finde ich ja noch einen Zacken besser, obwohl zwei Stunden Schönheitsschlaf im Klassenraum auch nicht zu verachten gewesen wären“, stellte Raffi trocken fest, wofür er die Lacher der Klassengemeinschaft erntete.

„Aber was ist denn jetzt mit Laurin und Malte?“, wiederholte ein Schüler aus der Parallelklasse seine Frage.

„Die werden wohl beide erst im neuen Jahr wieder zur Schule kommen. Der Laurin hat zwei gebrochene Rippen und Maltes rechtes Bein ist glatt gebrochen“, klärte Ergün ruhig auf, bevor er sich mit Raffi und Jo von der Gruppe absetzte um ihnen von den weiteren Entwicklungen in Maltes zu Hause berichten zu können.

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Was die Jugendlichen eigentlich fast nicht mehr geglaubt hatten, war nämlich am späten Sonntagnachmittag eingetreten. „Also wenn ich es nicht selbst mitbekommen hätte, würde ich es nicht glauben wollen“, begann der Halbtürke zu erzählen. „Ihr wisst ja, dass ich gestern wieder bei Malte und Laurin in der Klinik war.“

„Jetzt mach mal hin Digga, wir haben zu X-Mas noch was anderes vor“, drängten die sechzehnjährigen Gymnasiasten ihren Klassenkameraden schmunzelnd. Doch Ergün ließ sich nicht von seinem Kurs abbringen, schlussendlich kannte er seine beiden Freunde ja nicht erst seit gestern und fuhr deshalb seelenruhig mit seinem Bericht fort:

„Also – ich hatte Malte gerade zur Begrüßung geküsst, oh man – hat der rosige, zarte Lippen, als die Zimmertür geöffnet wurde und sein Stiefvater völlig übermüdet, mit fetten Jahresringen unter den Augen, ins Zimmer trat.“

‚Offensichtlich hatte da wohl jemand eine nicht ganz so ruhige Nacht‘, schoss es Johannes und Raphael durch die Hirnwindungen. Wie von den beiden vermutet hatte Werner Henseleit, tatsächlich am Samstag die ganze Nacht nicht schlafen können und dadurch erneut Zeit über alles nachzudenken, bereits als er vorm Spiel in die Kabine gestürmt kam, wäre er zumindest bereit gewesen, sich für sein Verhalten auf der Pressekonferenz, bei seinem Stiefsohn zu entschuldigen. Die Ohrfeige, die Malte dem Endvierziger versetzte bewies diesem endgültig, dass er als Erziehungsberechtigter wohl alles falsch gemacht hatte, was man nur irgendwie falsch machen konnte. Er habe also in diesem Sinne doppelt versagt.

„Bitte glaub mir, dass mir unendlich leid tut was ich dir alles an den Kopf geworfen habe. Es tut mir auch leid, dass ich mich immer wieder von Björn hab einwickeln lassen und ihm mehr geglaubt habe als dir.“ Werner spielte nervös mit seinen Fingern als er dies sagte.

„Das klingt jetzt ja alles ganz schön Werner“, begann Malte mit fester Stimme und hielt dabei Ergüns Hand, als ob er zusätzlichen Halt suchen würde. „Aber was ist, wenn Björn wieder auftaucht und erneut versucht dich auf seine Seite zu ziehen?“ Henseleit senkte den Kopf und schüttelte diesen unter Tränen.

„Nein, diesmal nicht Malte – Björn hat einmal zu oft versucht unsere Familie zu zerstören. Diesmal wird er seine Strafe bekommen und auch absitzen müssen, dass verspreche ich dir. Keine Spenden mehr, bloß damit er wieder ungeschoren davonkommt.“

„Du hast gesagt, dass ich sehen kann wo ich bleibe, was ist also, wenn ich jetzt nicht mehr nach Hause zurückkehren und lieber in eine betreute Wohngruppe ziehen möchte?“ Werner blickte seinen Stiefsohn aus verzweifelten Augen an.

„Dann könnte ich dir das noch nicht einmal verübeln. Trotz allem möchte ich dich bitten, uns beiden noch einmal eine Chance zu geben – alleine um deiner Mutter Willen, die das bestimmt nicht begreifen würde.“

*****

„Malte tat am Ende so, als ob er erst noch überlegen müsste. In seinen Augen konnte ich aber längst erkennen, dass er seine Entscheidung bereits gefällt hatte. Sobald er das Krankenhaus verlassen darf, wird er nach Hause zurückkehren und Werner somit die Chance geben. Aber bei dem kleinsten Anzeichen, dass sein Stiefvater das was er sagte nicht ernst meint, zieht er schnellstmöglich aus und in eine betreute Wohngruppe“, schloss Ergün seinen Bericht nach etwa zwanzig Minuten. Dies war für Johannes und Raphael eine nachvollziehbare Entscheidung ihres Teamkameraden und Mitschülers, schließlich verlangte der Sechzehnjährige nichts unmögliches.

„Hey, sollen wir euch dreien was vom Bäcker mitbringen?“, rief einer ihrer Klassenkameraden zu ihnen herüber und kam auf ihr nicken zu ihnen herüber.

„Klasse Idee Chrischi, drei ‚Coffee to go‘ und Schokocroissants wären denke ich jetzt genau das Richtige“, bedankten sich die drei Freunde und händigten dem 1,80 Meter großen braunhaarigen Mitschüler, der eigentlich auf die Namen Christoff-Maria Bluhme getauft worden war, passendes Kleingeld aus.

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Vor der Schule gab es zwischenzeitlich mehrfach schwache Versuche durch das Lehrerkollegium, den Schülerstreik zu beenden indem sie mit nachsitzen und Elternbriefen drohten.

„Lachhaft – wo wollen sie denn die ganzen Arbeitslosen hernehmen, um die Briefe zu schreiben?“, hielten die älteren Jahrgänge lachend dagegen. Alleine die Portokosten hätten in diesem speziellen Fall ein gehöriges Loch in die Kassen der Lehranstalt gefressen. „Werfen Sie uns doch alle in den Karzer, wie Anno Toback – ach ‘ne den gibt’s ja nicht mehr.“

„Übrigens toller Anzug Herr Wagner – ne echt mal – aber gibt es den auch in neu?“, lederten die Gymnasiasten auch den Dinosaurier des Lehrerkollegiums ab.

So ging es munter bis 11:30 Uhr weiter, bis sich das Fenster im Obergeschoss erneut geöffnet wurde, um alle Schüler in die Aula zu bitten, wo die Schulleiterin Frau Dr. Irmtrud Bechtler einige wichtige Ankündigungen zu machen wünschte.

„Zunächst einmal möchte ich mich für den friedlichen Verlauf Ihres Streiks bedanken. Es waren recht kurze, aber zu jedem Zeitpunkt sachlich und fair geführte Verhandlungen, die ich mit Ihren Schülervertretern führen durfte. Ich verspreche Ihnen, dass ich mich persönlich dafür stark machen werde, damit weitere Lehrkräfte eingestellt werden.“ Applaus und Jubelrufe zwangen die Schulleiterin, ihre Ausführungen kurz zu Unterbrechen. „Desweiteren möchte ich Ihnen davon Mitteilung machen, dass mich der Kollege Wagner bereits in der vergangenen Woche in einem persönlichen Gespräch um seine Entlassung aus dem Lehramt gebeten hat, weil er sich dieser Herausforderung nicht mehr gewachsen fühlt. Diesem Wunsch werde ich zum Jahresende entsprechen, sodass wenn Sie nach den Weihnachtsferien zurückkommen, ein jüngerer Kollege oder eine Kollegin an seine Stelle treten wird.“

An dieser Stelle beendete Frau Dr. Bechtler nicht nur ihre Ansprache, sondern auch den heutigen Schultag, um dem Kollegium Gelegenheit zu geben, die restlichen Tage bis vor den Ferien so durchzuplanen, damit es bis zu den Ferien keine unnötigen Unterrichtsausfälle mehr geben würde.

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Während dieser Versammlung waren Johannes und Raphael zwei Schüler aus der 12. aufgefallen, die Händchen hielten, sich immer wieder verliebte Blicke zuwarfen und sich sogar einmal ganz kurz küssten, was die um sie herumsitzenden Mitschülerinnen und Schüler nicht im geringsten zu stören schien. „Wartet mal bitte“, forderten Raphael und Johannes die angehenden Abiturienten beim Verlassen des Schulgeländes auf.

„Ihr seid doch Raphael und Johannes die Fußballer richtig? Was gibt‘s denn?“

„Jup. Könnten wir uns zusammen ins Schlosscafe setzen, wir möchten das nicht unbedingt hier draußen besprechen“, baten sie die älteren Mitschüler, welche sich als Erik Baumgart und Mikel Schumann vorgestellt hatten.

„Klar kein Problem“, entgegnete der mit 1,85 Metern kleinere, dunkelblonde Erik. Die beiden älteren Jungs hatten schon eine Vermutung, worum es gehen könnte, schließlich war es auch für sie vor drei Jahren kein leichter Schritt gewesen, sich in ihrer Klasse zu outen.

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„Ihr beiden seid ein Paar richtig?“, fragte Mikel direkt, nachdem sie sich im Cafe gemeinsam an einen Tisch gesetzt hatten.

„Ja sind wir aber …“, zeigten sich die beiden Fußballer sichtlich erstaunt.

„Man sieht es euch an, wir erkennen unsere Schweinchen“, erklärte Erik schmunzelnd. Nebenbei erfuhren Jo und Raffi jetzt, dass es noch einige mehr schwule und lesbische Pärchen auf dem Gymnasium gab.

„So und jetzt raus mit der Sprache, was habt ihr auf dem Herzen?“, forderte der gerade vor kurzem 18 Jahre gewordene Mikel unsere Helden auf.

„Naja, wir sind jetzt schon ein paar Monate zusammen, daheim und in der eigenen Vereinsmannschaft haben wir Rückendeckung. Wir würden es jetzt auch gerne in unserer Klasse erzählen, aber naja - nachdem was unser Klassensprecher Aaron heute früh abgelassen hat, sind wir uns nicht mehr so sicher, ob diese Idee wirklich die beste ist“, versuchte Johannes ihre Situation zu erklären.

„Lange die alte Schrankschwuchtel? Macht euch um den mal keinen Kopp, den haben wir am Samstag im Twister mit einem Tyen aufm Klo erwischt. Der ist so warm, der kann mit einer flachen Hand sein Hemd bügeln.“

‚Wie jetzt, Aaron Lange macht heimlich mit Jungs rum und markiert in der Schule den Weiberhelden und Schwulenhasser?‘, begann es in den Köpfen der Sechzehnjährigen zu arbeiten.

„Der wollte uns sogar Geld geben, bloß damit wir niemandem was davon erzählen“, setzten Erik und Mikel grinsend obendrauf. Je länger dieses Gespräch dauerte, umso mehr tauten Johannes und Raphael, den beiden älteren gegenüber auf. Es tat ihnen gut einmal mit erfahreneren Gleichgesinnten über ihre speziellen Sorgen sprechen zu können. Am Ende tauschten sie mit den neu gewonnenen Freunden sogar Handynummern aus und verabredeten sich für Donnerstagabend auf dem Weihnachtsmarkt.

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