Kapitel 6: Vorweihnachts- und anderer ‚Trubel‘
An Gesprächs- und
Diskussionsstoff herrschte in der Kreisstadt in den Tagen bis Weihnachten kein
Mangel. Bereits am Montag ging es in der Klasse 10a des Mariengymnasiums los,
als Aaron Lange sich zu Beginn der ersten Stunde vor der gesamten Klasse und
hierbei nochmals speziell bei Johannes und Raphael entschuldigte und erklärte,
was zu seinem drastischen Verhalten geführt hatte. Dies hatte ihr
Geschichtslehrer Wagner ja gerade noch still hingenommen. Als sich anschließend
allerdings so etwas wie eine Diskussion anbahnte, versuchte der 65jährige
Studienrat, diese zu unterbinden.
„Darauf würde ich, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, nicht bestehen, Herr Wagner“, fuhr ihm der
Klassensprecher aufgebracht zischend in die Parade, „oder soll ich mal
erzählen, was sie vor 25 Jahren mit meinem Vater gemacht haben, als sie während
der Studienfahrt nach Berlin zufällig
mitbekommen hatten, dass er schwul ist?“ Der Sechzehnjährige hatte am
Wochenende lange mit seinem Vater telefoniert, sich mit ihm ausgesprochen,
versöhnt und ihm berichtet, was in den letzten Monaten vorgefallen war. Dabei
ließ der Sechzehnjährige auch nicht aus, zu erzählen, wozu er durch den neuen
Lebensgefährten seiner Mutter, unter Gewaltanwendung gezwungen worden war. Sie
hatten wie gesagt lange gesprochen und so hatte sein Vater ihm auch die ganze
Geschichte seiner Liebe zu Ronald Bumbuu-Schmitz erzählt, die lange vor dessen
sportlicher Karriere, noch während der Schulzeit, auf dem Mariengymnasium ihren
Anfang nahm.
Im Klassenzimmer hätte man einen Stecknadelkopf fallen hören
können, als der Sechzehnjährige dem ‚Opern Dino‘, wie der Geschichtslehrer
scherzhaft von den Schülern genannt wurde, widersprach. Alles blickte gespannt
nach vorne, wo sich Lehrer und Schüler jetzt Auge in Auge gegenüberstanden.
Wusste Aaron etwa mehr, als nur die üblichen Gerüchte, die
sich über Richard Wagner seit Jahren an der Lehranstalt hielten? Bis Ende der
Achtziger Jahre unterrichtete der Pauker auch Sport und kontrollierte nach dem
Unterricht auch gerne persönlich in den Duschräumen der Knaben, ob diese sich
auch wirklich ordentlich (also nackig) abduschten. Außerdem soll er bei so
manchem der männlichen Zöglinge, wenn er Hilfestellung gab, den ‚ordentlichen‘
Sitz ihrer Schwanzpakete in den Sporthosen geprüft haben. Wie gesagt, es waren
Gerüchte, aber irgendwie schien, dass, was Aaron dem Studienrat soeben an den
Kopf geworfen hatte, Wirkung zu zeigen. Wagners Kopf verfärbte sich deutlich
und man konnte seine Halsschlagadern hervortreten und zucken sehen. „Aaron
Lange, es reicht mir mit dir. Du wirst jetzt SOFORT den Raum verlassen und zur
Schulleiterin gehen.“
„FEIN!“, bollerte Aaron unbeeindruckt zurück, „Da
wollte ich sowieso als Nächstes hin!“, fuhr er übertrieben ruhig und breit
grinsend fort, ging zur Tür öffnete sie, trat langsam, gemessenen Schrittes,
hinaus und ließ sie dann mit viel Schwung ins Schloss zurückfallen.
Kaum hatte der Klassensprecher den Raum verlassen, kam
Bewegung in die Klasse. Einer nach dem anderen, allen voran Johannes Selders,
Raphael Senner und Ergün Özil, standen ruhig auf, gingen nach vorne Richtung
Tür, verließen den Unterrichtsraum und ließen den Geschichtslehrer, ohne auch
nur ein Wort zu sagen, alleine dort zurück, der in der Folgezeit einen
Schlaganfall erlitt und vor Beginn der dritten Stunde auf einer Trage liegend
abtransportiert wurde.
*****
Am Dienstag wurde der Unterricht durch eine Explosion im
Unterstand für die Fahrräder, Mofas und Roller der Schüler ‚zwangsbeendet‘. Ein
unbekannter Täter hatte, wie später festgestellt wurde unter Raffis Roller
einen kleinen Sprengsatz deponiert, dessen Wucht ausreichte, um nicht nur
diesen gezielt in seine Einzelteile zu zerlegen. Und als ob das noch nicht
gereicht hätte, erhielten Johannes und Raphael eine anonyme Email, welche sie
nachmittags in ihren Postfächern fanden:
der skuuter wahr die lezte warnunk ir schwuchteln. wier
wolen keine schwulen aufm gümnassjum und im fsv. bein nehxten mahl mach ich
euch kald.
„Shit – das sieht verdammt nach Björns Handschrift aus“,
sagte Raphael mit zittriger Stimme. Wieder schüttelte den Blondschopf ein
Heulkrampf. Seit diesem Attentat vom Vormittag, anders konnte man dieses
Ereignis kaum noch bezeichnen, welches nicht nur ihn den fahrbaren Untersatz
gekostet hatte, stand der junge Mann endgültig neben sich. „Warum macht dieser
Idiot so was, was hat er davon?“, stammelte er aufgelöst weiter, während
Johannes ihn zu beruhigen versuchte, obwohl es ihm alles andere als leicht
fiel, nicht ebenfalls die Beherrschung zu verlieren. Wieder griff er zu seinem
Smartphone und erneut betätigte er die Wahlwiederholung, in der Hoffnung
endlich seinen Vater zu erreichen. Zum achten mal, innerhalb von zwanzig
Minuten, versuchte sein Handy mittlerweile die Verbindung herzustellen – und
erneut wurde der Versuch nach 30 Sekunden abgebrochen.
Auch wenn Jo es sich vor Raffi nicht anmerken lassen wollte
– seine Nerven lagen blank. Solange der Sechzehnjährige zurückdenken konnte,
war sein Vater immer für ihn da. Warum erinnerte er sich ausgerechnet jetzt an
jenes Gespräch, welches sie führten, nachdem er vor vier Jahren seinen ersten
feucht/klebrigen Orgasmus erlebt hatte? War das Normal oder ein erstes
Anzeichen von beginnendem Wahnsinn? Der grünäugige Teenager hatte auf diese
Frage keine Antwort, er wusste nur, dass in den letzten beiden Wochen in der
friesischen Kleinstadt mehr los gewesen war, als in den ganzen letzten Jahren
zusammen. Sollte der Mayakalender am Ende doch recht behalten? Wenn dem so
wäre, dann würde die Welt am 21.12.2012 unweigerlich untergehen. Bis vor Kurzem
hatte der Gymnasiast nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, aber
seit dem Unfall ihres ehemaligen Jugendtrainers Verheugen, hatten sich die
Ereignisse dermaßen überschlagen, dass man schon mal auf so unsinnige Gedanken
kommen konnte. Stimmt es wirklich, dass man im Angesicht des nahenden Todes
sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sieht? Auch dies war eine durchaus
interessante Frage, mit deren Beantwortung sich der Sechzehnjährige eigentlich
noch nicht beschäftigen wollte. Dennoch schoss sie ihm durch die Hirnrinde,
bevor Michael Jackson mit ‚Thriller’ einen eingehenden Anruf seines Vaters
ankündigte und Johannes Selders aus seinen tieftrüben Gedanken mitten in die
Realität zurückkatapultierte.
„Vati sagt – er kann frühestens in zwei Stunden hier sein,
aber er schickt uns einen Kollegen vorbei“, klärte er seinen Freund Minuten
später noch auf, bevor es auch mit seiner Fassung endgültig aus war und wahre
Niagarafälle aus seinen Augen flossen, die erst wieder versiegten, als es unten
an der Haustür klingelte. Beide zuckten kurz zusammen und beschlossen gemeinsam
an die Tür zu gehen, sich aber vorher zu versichern, dass es nicht Björn oder
einer seiner ‚tollen‘ Freunde war. Da Raphaels Zimmer zur Straße raus lag,
konnten sie mit einem kurzen Blick dort hinaus diese Frage klären.
Normalerweise übten die blaugrauen Einsatzfahrzeuge auch auf Raffi immer etwas Respekt
einflößendes aus und dies, obwohl er sich noch niemals etwas, zuschulden kommen
lassen hatte. Aber diesmal gab es für ihn keinen schöneren Anblick als den
dieses Fahrzeugs.
*****
Etwa zeitgleich gab es ein paar Meter weiter auch im Hause
Özil ein wenig Aufregung. Dort war es allerdings die dreizehnjährige Aishe, die
für den Wirbel sorgte, als sie ihren großen Bruder Ergün um Hilfe bei den Englisch-Hausaufgaben
bitten wollte.
Der sechzehnjährige Halbtürke und sein gleichaltriger Freund
Malte saßen gerade eng umschlungen auf der Ledercouch und lieferten sich einen
heftigen Zungenringkampf, als Aishe ins Zimmer stürmte und dieses laut kreischend
verließ. Ergün hatte sich nämlich bis dahin immer noch nicht vor seiner Familie
geoutet. Dass dieses Ereignis aufgrund seines Versäumnisses jetzt kurzzeitig
für ein wenig Verstimmung innerhalb der Familie sorgen würde, damit hatte der Gymnasiast
offensichtlich nicht gerechnet.
„Was werden unsere Verwandten und die Gäste und die sagen,
wenn sie erfahren, dass mein ältester Sohn schwul ist?“
„Das hast du jetzt nicht wirklich gefragt Murat“, raunzte
Eva-Maria Özil ihrem Ehemann entgegen. Sicher – auch für sie als Mutter war es
eine Überraschung, aber schließlich hatte sie mit Peter einen Bruder, der
ebenfalls homosexuell ist und den sie deswegen nicht weniger liebte, bloß weil
er mit einem anderen Mann zusammenlebte. Erkan und Bülent saßen stumm dabei und
genossen es innerlich, dass es endlich mal wieder ‚Action‘ in ihrer Familie
gab. Vater Murat war trotz seiner eher konservativen Erziehung eigentlich doch
eher modern eingestellt. Dennoch setzte es ihm enorm zu, dass er diese für das
Leben seines ältesten Sohnes wichtige Entscheidung, erst über Umwege erfahren
hatte. Was hatte er damals für, in seinen Augen, unsinnige
Grundsatzdiskussionen führen müssen, als er Eva zur Frau gewählt und für sie
sogar zum katholischen Glauben übergetreten war. Seine Großeltern redeten bis
heute nicht mehr mit ihm und seine Eltern überdachten ihre Haltung erst, als
Aishe vor 13 Jahren geboren wurde.
„Wenn dir das wichtiger ist als mein Glück, dann kannst du
dir jemand anderen suchen, der im Geschäft als Aushilfe arbeitet“, haute Ergün
beleidigt raus. Hätte Malte nicht neben ihm gesessen und seine Hand gehalten,
dann hätte der Sechzehnjährige seinem Vater noch ganz andere Dinge gesagt,
schließlich lebten sie hier in der friesischen Kreisstadt und nicht in Ankara
oder Antalya, wie der Rest ihrer Familienangehörigen. Die Augen der jüngeren
Brüder wurden nach dieser Aussage immer größer und sie bissen sich vor
Aufregung auf die Lippen und auch in den Augen ihrer Schwester war jetzt so
etwas wie Aufregung zu erkennen.
„Hast du das gehört Murat und überhaupt – was soll Malte von
uns denken?“, fragte die Mutter nicht weniger enttäuscht und ließ dabei Blitze
aus ihren Augen zucken. Diesen Blick kannte der Familienvater nur zu gut und
Sexentzug war nur eine seiner Folgeerscheinungen, wenn er nicht einlenken
würde.
„Och Menno, so schlimm find ich das doch gar nicht – ich war
vorhin nur so überrascht, als die beiden sich mit Zunge geküsst haben“,
versuchte Aishe, vor sich hin stammelnd, die Wogen zu glätten. Bis dahin hatte sich
die Dreizehnjährige zurückgehalten, weil es ihr so peinlich war, dass sie wegen
einer harmlosen Knutscherei so einen Aufstand gemacht hatte. Sie selbst hatte
das vor zwei Jahren einmal heimlich mit ihrer besten Freundin Brittney
ausprobiert, einfach weil sie wissen wollte, wie sich das anfühlt.
„Ihr habt ja recht – Ergün, wenn du dich in den Malte
verliebt hast, dann ist das halt so. Deswegen brauchst du dir jetzt nicht
gleich einen anderen Job zu suchen“, lenkte Murat Özil Minuten später ein und
entschuldigte sich für seine engstirnige Reaktion. „Das ist aber jetzt kein
Freibrief für euch drei, ich möchte schon irgendwann noch mal Enkelkinder
haben“, wandte er sich schmunzelnd an Ergüns jüngere Geschwister.
„Aber lasst euch um Himmels willen Zeit damit. Es reicht
aus, wenn ihr damit anfangt, sobald ihr mit Schule und Ausbildung fertig seid“,
wandte sich die Mutter schmunzelnd, besonders an den Elfjährigen, weil er nach
der Anmerkung des Vaters besonders eifrig nickte, was alle Anwesenden zum
Lachen veranlasste.
*****
„Ihr bekommt ab sofort Polizeischutz“, teilte
Hauptwachtmeister Selders den beiden Sechzehnjährigen mit, als sie mit Raphaels
Eltern und Johannes‘ Mutter in der Küche beim gemeinsamen Abendbrot in der
Küche saßen und darüber berieten, wie sie sich weiter verhalten wollten,
nachdem die Situation immer mehr zu eskalieren droht.
„Zumindest solange dieser Björn Henseleit noch nicht gefasst
ist, solltet ihr noch mehr darauf achten, mit eurem Verhalten in der
Öffentlichkeit nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen“, schlugen Raffis
Eltern besorgt vor, obwohl sie ja selber wussten, dass man gerade, wenn man
noch jung verliebt ist, dies auch irgendwie zeigen möchte. Sie selbst bildeten
da auch nach 24 Ehejahren keine Ausnahme. Aber sie wussten halt, dass
Heteropärchen in der Öffentlichkeit viel weniger Beachtung als
gleichgeschlechtlichen Paaren geschenkt wurde.
„Das tun wir doch sowieso, auch wenn wir das am letzten
Donnerstag aufm Weihnachtsmarkt ganz kurz vergessen hatten.“
*****
In der Nacht zum Mittwoch waren maskierte Täter unter
Umgehung der Alarmanlage im Autohaus Henseleit eingedrungen, hatten dort mehrere
Fahrzeuge entwendet und diese zu Schrott gefahren. Am Tatort fand sich neben
einem Schlüsselbund auch eine Brieftasche samt Inhalt, beides gehörte dem
leiblichen Sohn des Autohändlers, Björn Henseleit. Neben etwas Kleingeld und
seinem Personalausweis befand sich in der verlorenen Geldbörse des Jugendlichen
auch eine Liste mit Adressen und Namen, von denen besonders drei die
Aufmerksamkeit der Beamten erregten. Johannes Selders, Raphael Senner, Malte
Gruber, alle drei Namen waren in Kreuze auf Grabhügeln geschrieben und mit den
Buchstaben R. I. P. versehen und als Todesdatum der 21.12.2012, der
Tag der Vereinsweihnachtsfeier der B-Junioren eingetragen worden.
*****
Raphael und Johannes wunderten sich am Mittwochvormittag
zunächst noch darüber, dass, als sie bei Senners in die Küche traten, neben
Raffis Mutter, auch von zwei Zivilbeamten erwartet wurden. Schließlich war der
Schulunterricht, nach dem Attentat vom Dienstag, bereits für den Rest der Woche
abgesagt worden.
„Wir müssen die Sicherheitsmaßnahmen zu Ihrem persönlichen
Schutz leider noch weiter ausbauen“, erläuterte der jüngere der Beamten, ohne
dabei zu viel zu verraten.
„Öhm, warum? Was versuchen Sie uns zu verheimlichen?“
Johannes mochte es noch nie, wenn irgendetwas entschieden wurde, ohne dass man
es ihm vorher genau erklärt hatte. So etwas konnte er schon als Sechsjähriger
nicht leiden und jetzt mit sechzehn hatte sich daran auch nichts geändert.
„Dieser Björn Henseleit ist in der vergangenen Nacht mit
weiteren Tätern ins Autohaus seines Vaters eingedrungen und hat dabei etwas
verloren, das uns zu dieser Maßnahme veranlasste“, ruderte der Beamte weiter.
„Blah, blah, blah.“ Jo wurde langsam wütend: „Entweder Sie
sagen uns jetzt genau, was Sache ist oder Sie dürfen auf der Stelle gehen!“
„Herr Selders bitte“, versuchte der Ältere jetzt zu
vermitteln.
„NEIN – nicht Herr Selders bitte. Es geht hier schließlich
um Raphael und mich. Verdammt, wir sind alt genug, um nicht immer alles durch
den ‚Dafür-bist-du-noch-zu-jung-Quirl’ püriert zu bekommen. Komm Raffi wir
gehen – das ist mir echt zu blöd hier!“
„Herr Selders bitte – es ist jetzt sicher, dass Björn
Henseleit etwas gegen Sie, Ihren Freund und seinen Stiefbruder den Malte Gruber
plant. Wir wissen noch nicht, was er genau vorhat, aber wir haben einen Termin,
wann er spätestens zuschlagen will.“ Damit hatte der jüngere Beamte, immer noch
nicht zu viel verraten, denn dass es der 21.12. sein würde daran bestanden nach
aktueller Beweislage keinerlei Zweifel.
Beiden Jugendlichen hatte es die Sprache verschlagen, sie
konnten es einfach nicht begreifen. Ihre Gesichter waren kalkweiß und in ihren
Köpfen rotierten die Gedanken. Als sie heute früh nach einer unruhigen Nacht
aufwachten, hofften sie noch, dass die anonyme Drohmail ein schlechter Scherz
von irgendeinem Trittbrettfahrer gewesen war. Wieder und wieder fragten sie
sich nach dem Warum, aber sie konnten einfach keine Antwort darauf finden.
„Es wird das Beste sein, wenn Sie und Malte Gruber die
nächste Zeit Tag und Nacht gemeinsam verbringen, damit wir Sie effektiver schützen
können. Sie sind noch schulpflichtig, trotz allem halten wir es für besser,
wenn Sie bis zu den Ferien das Gymnasium meiden, weil wir nicht wissen, ob
Henseleit dort Sympathisanten hat. Wir haben Kontakt zur Schulleitung
aufgenommen – um abzuklären, inwieweit es möglich ist, Ihnen Privatunterricht
zu geben. Wir haben für solche Notfälle ein paar junge Lehrkräfte in der Hinterhand,
allerdings muss dies auch mit Ihrem Lehrplan abgestimmt werden.“
*****
Zeitgleich ging es im Hause Henseleit zu wie in einem
Taubenschlag. Polizei und Handwerker drückten sich dort an diesem Vormittag gewissermaßen
die Türklinke in die Hand. Es war der ausdrückliche Wunsch von Maltes Mutter,
nachdem sie in den vergangenen Tagen alles
erfahren hatte, was sich in der Zeit seit ihrer Erkrankung zugetragen hatte,
dass sämtliche Schlösser ausgetauscht, und ein neues Sicherheitssystem
installiert wird.
Als es um 5:00 Uhr morgens an der Haustür klingelte und die
Polizei Werner Henseleit zunächst über den Einbruch im Autohaus informierte und
ihn bat mitzukommen, hatten die Bewohner bereits eine ziemlich unruhige Nacht
hinter sich. Fast pausenlos hatte in der vergangenen Nacht entweder das
Haustelefon oder Maltes Handy Alarm geschlagen, doch jedes Mal, sobald jemand
abnahm, wurde die Verbindung von der Gegenseite getrennt.
Dementsprechend gerädert fühlte sich der Sechzehnjährige
auch, als er um 7:30 Uhr morgens mit Werner und seiner Mutter am
Frühstückstisch saß. Fassungslosigkeit stand in ihren Gesichtern geschrieben
und Henseleit fragte sich zum ersten Mal ernsthaft, ob Björn in Wirklichkeit
gar nicht sein leiblicher Sohn ist, sondern als Baby im Krankenhaus vertauscht
worden war.
Als dann eine Stunde später auch noch zwei Zivilbeamte eintrafen,
um auch Malte möglichst schonend über die Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen
zu informieren, war es mit seiner Fassung endgültig vorbei.
„Herr Gruber, wir haben berechtigten Grund zu der Annahme,
dass Ihr Stiefbruder ein Attentat gegen Sie und Ihre beiden Freunde Johannes
Selders und Raphael Senner plant.“ Das Wort Attentat, war dem jüngeren
Kripobeamten eher beiläufig rausgerutscht und er erntete dafür sofort einen
bösen Blick seines älteren Kollegen, der jetzt noch versuchte in
Schadensbegrenzung zu machen:
„Herr Gruber, mein junger Kollege hat sich da wohl etwas
ungeschickt ausgedrückt, wir haben lediglich einen Zettel gefunden, auf dem
ihre drei Namen und die Adressen stehen.“
„Sie wollen mich wohl für blöd verkaufen! Ich habe genau
verstanden, was Ihr Kollege mir soeben gesagt hat!“ Malte war außer sich, bis
vor Kurzem noch hatte er seinen Stiefbruder für einen relativ harmlosen Irren,
mit einem Hang zur Kleinkriminalität gehalten. Aber jetzt? Björn Henseleit
machte ihm Angst – richtig Angst. Die Gedanken begannen wie wild in seinem Kopf
zu kreisen, sein Herzschlag beschleunigte sich, der Puls raste und sein Atem
ging schneller, als ob er 100 Meter in neuer Rekordzeit gelaufen wäre – ‚Attentat
– Attentat – Attentat‘, hallte es in seinen Ohren nach. Maltes Blick trübte
sich, alles um ihn herum verschwamm in einem Meer aus Tränen – dann wurde ihm
schwarz vor Augen …
*****
Als der Rothaarige seine Augen wieder öffnete, lag er in
seinem Bett, Ergün saß bei ihm und hielt seine Hand, weiter hinten im Zimmer
saßen auch Johannes und Raphael auf der Couch und unterhielten sich leise,
draußen wurde es langsam wieder dunkel.
„Hey Süßer, hast du ausgeschlafen?“, säuselte der Halbtürke
verliebt vor sich hin.
„Moin Schatz, hi Raffi und Jo“, sagte er und streckte sich
erst mal genüsslich. Aber Moment mal, wieso lag er überhaupt im Bett? Er saß
doch gerade noch mit seinen Eltern in der Küche oder hatte er das alles nur
geträumt?
„Moinsen Schlafmütze, du hast uns allen ja einen ganz
schönen Schrecken eingejagt“, sonderten Johannes und Raphael ab.
„Du hattest wohl so etwas wie einen Schwächeanfall, der Arzt
meinte – so etwas könne in Stresssituationen schon mal passieren“, beantwortete
Ergün die ungestellte Frage seines Freundes. Schwächeanfall? Stresssituation?
Langsam kam Maltes Erinnerung vollständig zurück. Da waren diese beiden
Kripobeamten und der eine redete etwas von einem geplanten Attentat gegen
Raffi, Jo und ihn.
„Björn – will uns …“
„Wissen wir. Die Polizei hält es für besser, wenn wir in
nächster Zeit einen gemeinsamen großen Schatten werfen. Unsere Eldies haben
sich deswegen schon untereinander abgesprochen, wie wir das mit den
Übernachtungen regeln. Heute bleiben wir bei dir und Morgen ziehen wir dann zu
mir um“, erläuterte Johannes.
„Bewegliche Ziele sind nämlich schwerer zu treffen“,
ließ er noch scherzend ab und hätte sich für diesen Spruch, kaum dass er ihm
entfahren war, am liebsten selbst in den Hintern gebissen.
Doch Malte nahm den Spruch gelassener hin als erwartet, er
lachte sogar darüber. Selbst wenn Johannes ihn nicht abgelassen hätte, es würde
sich eh nichts daran ändern lassen. Es sprach also nichts dagegen, der
Situation mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor zu begegnen. Und außerdem
hatte das Ganze ja auch etwas von Starrummel, okay die Bodyguards könnten
schnuckeliger aussehen, aber leider konnte man nicht alles haben.
„Is‘ schon okay – wir sollten wirklich dazu übergehen uns
jetzt nicht ständig Gedanken darüber zu machen“, wischte er die Bemerkung
locker weg.
„Wir haben übrigens bis auf Weiteres auf Staatskosten neue
Handynummern bekommen und unsere Eldies neue fürs Festnetz. Du musst deine
Simkarte nur noch austauschen und dann kann dieser Vollhonk auch dich darüber
nicht mehr terrorisieren“, erklärte Raffi dem Rotschopf und übergab ihm
originalverpacktes Mobilfunkpack.
„Allnetflat inklusive. Dafür können wir aber unterwegs nicht
im Internet surfen“, ergänzte Jo ein wenig wehmütig.
*****
„Lasst uns mal euren Fahrdienst testen“, schlug Ergün
grinsend vor, als ihm gegen 17:00 Uhr der Magen knurrte.
„Fahrdienst?“, fragte Malte mit großen Augen.
„Jap, wir dürfen ja nirgends alleine hin“, antwortete Jo
bereit grinsend, „draußen steht ein schwarzer Van, gepanzert und mit verdunkelten
Scheiben.“
*****
Es war also beschlossene Sache, den ganzen Tag nur in der
Bude hocken und Playsi zocken, sich irgendwelche Filmchen mit leicht bis gar
nicht bekleideten Typen oder Musik aus dem Internet saugen war nichts für die
vier Jugendlichen. Schließlich waren sie Fußballer, sie brauchten Frischluft,
Bewegung und das Gefühl von ‚Freiheit‘. Sicher die für ihren Schutz
abgestellten Zivilbeamten konnten nichts dafür, aber sie sollten ruhig merken,
dass dies kein leichter Job für sie
werden wird.
„Wohin wollt ihr?“, knatterte unseren vier Freunden, ein
etwa 1,89 Meter großer Typ mit braunen Augen, kurzen schwarzen Haaren und
Dreitagebart entgegen und versperrte ihnen den Weg, bevor sie ganz durch die
Haustür waren.
„Weg – dass müsstest Du
doch eigentlich mitbekommen haben oder wird mein Zimmer nicht abgehört?“,
knatterte Malte provozierend zurück. Auch wenn der Typ für einen Kripobeamten
eigentlich ganz schnuckelig aussah, so bedeutete dies nicht automatisch, dass er sich alles erlauben und Malte und dessen
Freunde, einfach so duzen durfte.
„Natürlich nicht, aber wohin möchten Sie denn jetzt?“,
entgegnete der junge Mann schon wesentlich freundlicher. Heiner Ruge war einer
von neun jüngeren Kripobeamten, die abgestellt worden waren, um die drei
Jugendlichen rund um die Uhr zu bewachen und sie überallhin zu begleiten.
„Mir fällt hier die Decke auf den Kopf – erst mal Richtung
Wilhelmshaven zum B-King“, antwortete Malte lächelnd.
„Na dann lasst uns mal losfahren“, schlug der 26jährige
lächelnd vor, nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten und er sich
kurz mit seinen beiden Kollegen abgesprochen hatte, die mit einem zweiten
Fahrzeug hinterher fahren wollten. Denn erstens waren sie ebenfalls hungrig und
zweitens war dies eine gute Gelegenheit für die Kripobeamten, die jungen Männer
etwas genauer kennenzulernen, von denen sie bisher eigentlich nur das Alter und
die Namen wussten.
Der Van war im Innenraum mehr als geräumig und die verdunkelten
Scheiben luden geradezu dazu ein, darin Dinge zu machen, welche sich unsere
vier Freunde bisher nur in den eigenen vier Wänden trauten.
„Heiner – es stört dich hoffentlich nicht, wenn wir hier
hinten etwas miteinander rummachen?“ Der Gefragte glaubte sich verhört zu haben
und bekam, beim Kontrollblick in den Rückspiegel, extremste Schweißausbrüche,
als er sah, wie Johannes, Raphael, Malte und Ergün ihre Zungen pärchenweise
miteinander tanzen ließen. Ruge war als Teenager ja auch kein Kind von
Traurigkeit – während er sich daran erinnerte, an was für ausgefallenen Orten
sein damaliger Freund und jetziger Lebenspartner und er gemeinsam das Wort
Leidenschaft buchstabierten, liefen seine Hormone Amok und er musste mehrfach
seine Hosenbeule zurechtdrücken. Immer häufiger erwischte er sich jetzt während
der Fahrt über die Bundesstraße dabei, dass er lieber ‚kontrollierte‘ was sich
hinter ihm abspielte, statt sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.
„Sag mal Heiner, bist du besoffen oder warum fährst du
Schlangenlinien?! Außerdem müssen wir gleich links in die Ernst-Barlach-Straße einbiegen
und nicht rechts du Pappnase.“
‚Versuch du mal dich aufs Fahren zu konzentrieren, wenn du
ständig durch verliebte Pärchen abgelenkt wirst, die genau hinter dir sitzen,
Axel‘, schoss es dem 26jährigen durch den Kopf, als sein Kollege ihn über Funk
anmaulte. Das sprach er natürlich nicht aus, sondern behielt es lieber für sich
und setzte den Blinker richtig. Auf alle Fälle war er froh, als sie endlich das
Ziel erreicht hatten und er sich für einige Minuten ‚zurückziehen‘ konnte, nachdem
er seinen Kollegen kurz vorher noch mitgeteilt hatte, was er gerne hätte.
*****
„Also mit den Dreien haben wir es schon mal recht gut getroffen.
Aber jede Wette – Heiner spielt in unserer Liga“, stellte Raphael später fest,
als sie wieder in Maltes Zimmer saßen.
„Joah – könnte schon sein Raffischatz, so ‚nervös‘ wie der
wurde als wir auf der Rückbank rumgeleckt haben.“
„Und ob der schwul ist, der uns mit seinen Blicken ja
regelrecht ausgezogen“, bestätigte auch Malte die Theorie seiner
Fußballkollegen.
„Ist ja auch kein Wunder, so ein Süßer, wie du bist“,
säuselte Ergün seinem Freund ins Ohr umarmte ihn von hinten und hauchte dem
Rothaarigen einen Kuss in den Nacken.
Weil unsere vier Freunde, nachdem sie bei dem amerikanischen
Burgerbräter raus waren, noch nicht das Bedürfnis hatten zurückzufahren, schlug
Ergün grinsend das Schwulenlokal ‚Zur Sonne‘ als nächstes Ziel vor und diesmal
war es der 25jährige Axel Winterscheidt, den sie während der Fahrt aus der Ruhe
zu bringen versuchten. Der blond gelockte Kriminalmeister hätte den Van auch
wirklich fast in den nächsten Graben gesetzt, als er die Jugendlichen
urplötzlich leise aufstöhnen hörte.
Aber die absolute Krönung war der Spaß, den sie sich mit dem
Dritten um Bunde, Ragnar Lohmann gegönnt hatten. Dem wurde nämlich ziemlich
heiß, als sich in der ‚Szenekneipe‘ so ganz ohne Vorwarnung ein höchstens
20jähriger Transsexueller auf seinen Schoß setzte.
Als einziger Raucher in der Runde – hatte Ragnar natürlich
auch ein Feuerzeug dabei, mit dem er die ganze Zeit nervös rumspielte, während
sie sich bei alkoholfreien Getränken in aller Ruhe unterhielten. Jetzt war es
natürlich vorhersehbar, dass besonders unsere vier Freunde aufgrund ihres Aussehens
und des Alters sämtliche Blicke der Gäste auf sich zogen und auch die drei
Zivilbeamten den einen oder anderen davon abbekamen, aber in Ruhe gelassen
wurden, solange sie keine Bereitschaft für mehr signalisierten.
„Boah Ragnar, dass nervt“, zischelte Ergün dem blauäugigen
Beamten entgegen, entriss ihm den Taschendrachen und stellte diesen gut
sichtbar vor ihm auf den Tisch, wodurch augenblicklich Bewegung in die
Szenekneipe kam und der 24jährige kurze Zeit später die Transe bei sich auf dem
Schoß sitzen hatte.
„Du bist ja so ein Süßer, ich könnte dich glatt auffressen“, sprachs und schob dem
völlig überfordert schauenden Ragnar die Zunge bis zu den Mandeln.
*****
Trotz der über ihren Köpfen schwebenden Bedrohung – schafften
Malte, Johannes und Raphael es innerhalb der nächsten Tage doch wieder so etwas
wie Normalität einkehren zu lassen. Auch hatten sie schnell raus, dass sie mit
Heiner Ruge, Axel Winterscheidt und Ragnar Lohmann den meisten Spaß haben
konnten. Denn diese drei Beamten sahen ihre Aufgabe nicht nur als lästige
Pflicht an, sondern sie versuchten auch, auf die Bedürfnisse ihrer Schützlinge
einzugehen.
Während sich also mit ihren sechs Kollegen bestenfalls das
Pflichtprogramm abspulen ließ, waren mit Heiner, Axel und Ragnar eben auch ‚Vergnügungsfahrten‘
möglich. Und nicht nur das, es bildete sich sogar etwas Ähnliches wie eine
Freundschaft zwischen unseren Freunden und ihren erwachsenen Beschützern, die
alle drei ebenfalls Fußballfans waren und als Zuschauer im Pokalspiel gegen
Osnabrück im Publikum standen und für die Kiebitze jubelten, wie sich im
weiteren Verlauf des Abends in der ‚Sonne‘ herausstellte.
„Wenn ihr wollt,
bekommt ihr Dauerkarten für unsere Heimspiele“, bot Johannes den Dreien an,
obwohl er von seinem Vater wusste, dass sie solche Angebote ablehnen müssen,
weil sie als Bestechungsversuch gewertet werden könnten.
„Das ist ja lieb
gemeint von euch, aber wir dürfen das leider nicht annehmen“, lehnte Heiner das
Angebot wie erwartet, für sich und seine Kollegen ab.
*****
„Moin Ragnar – alles fit? Sag mal, wie geht‘s eigentlich deinem Freundin?“, haute Raffi
schmunzelnd raus. Der Gefragte musste schwer schlucken, nicht nur weil es
Stunden gedauert hatte, Olivia (Oliver) davon zu überzeugen, dass er nichts von
ihr/ihm wollte. Sie/er hatte doch tatsächlich erst Ruhe gegeben, nachdem sie
ihre Handynummern ausgetauscht hatten.
Bei seinen Kollegen war der Single, seit diesem Abend vor drei
Tagen, jedenfalls zu einer Lachnummer geworden, weil er seitdem, mindestens
einmal pro Tag, per SMS, glühende Liebesbotschaften von Olivia erhält.
„Ha, ha, ha – seeehr witzig, du Komiker!“, reagierte der
24jährige, grauäugige Beamte, der sich ein leichtes Grinsen aber dennoch nicht
verkneifen konnte. „Er ist nicht mein Freundin – noch nicht“, setzte der junge
Mann kaum hörbar hinterher.
Es war schon seltsam – wie viele Teenager hatte auch er
diese sogenannte Probierphase durchgemacht, sich aber letzten Endes für
weibliche Wesen entschieden. Und jetzt tauchte da plötzlich dieser zugegeben süße
neunzehnjährige transsexuelle Emoboy auf und verdrehte ihm mit seinen
Kurzmitteilungen so dermaßen den Kopf. Doch die Krönung war bisher die MMS, die
er heute früh erhalten hatte, als er gerade eingeschlafen war. Oliver
ungeschminkt und nackt. Und jetzt konnte er machen, was er wollte, er brauchte
nur kurz die Augen zu schließen und schon sah der den nackten Jüngling vor sich
und es kam mehr Leben in seine Diensthose, als dem jungen Polizeibeamten lieb
war.
Am liebsten würde er sich ja einmal unter vier Augen mit
seinem Kollegen Heiner darüber unterhalten, schließlich war der ja bekennend
schwul und lebte mit einem Mann in eheähnlicher Gemeinschaft.
„Öhm Ragnar – bevor wie losfahren, könntest du noch mal kurz
mit uns ins Haus kommen? Wir wollen dir mal was zeigen“, riss Johannes den
jungen Mann aus seinen Tagträumen.
*****
„Sag mal Ragnar – wir sagen‘s auch nicht weiter. Aber kann
es sein, dass du dich in Olivia verguckt hast?“, fragte Raphael frei raus, als
sie sich wenig später zu viert in Johannes‘ Zimmer wiederfanden.
„Wir sind zwar erst sechzehn, aber wir sind halt schwul und
– naja wir kennen unsere Schweinchen“, ergänzte Malte augenzwinkernd.
„Naja – ich hab das in den letzten Tagen im Dienst immer
irgendwie zu verdrängen versucht, obwohl es nicht leicht war, weil er mir so
unheimlich süße SMS’ en geschickt hat. Und heute früh hat er mir sogar ein Bild
von sich geschickt und jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wie ich mich
verhalten soll.“ Ragnar wusste nicht, warum er den drei Jugendlichen dies jetzt
anvertraute. Dabei kannte er sie doch erst seit ein paar Tagen.
„Ragnar – der Oliver ist mein Cousin und er hat mir
vorgestern in einer Email geschrieben, dass er sich auf den ersten Blick in
dich verliebt hat“, vertraute Johannes dem 24jährigen jetzt an. „Du hast doch
morgen frei, nutz die Gelegenheit und geh einfach mal mit ihm ins Kino oder so.
Glaub mir, er läuft nicht immer so aufgedonnert rum, wie an dem Abend.“ Sollte
er es wirklich mal drauf ankommen lassen? Immerhin war er jetzt seit fast drei
Jahren wieder Single und mit Frauen hatte er einfach kein Glück.
„Hmmm, vielleicht habt ihr Recht, und wenn ich es mir so
überlege – er sieht ja wirklich süß aus“, gestand Ragnar und bekam rote Ohren
dabei, als er dies absonderte.
„Das klingt ja fast so, als hätte es auch bei dir gefunkt.“
Lohmann schlug sein Herz bis zum Hals, als Johannes dies anmerkte. Ja, dieser
Oliver hatte ihm wirklich den Kopf verdreht und sein Herz geraubt. Also warum
sollte er es zumindest nicht auf einen Versuch ankommen lassen.
„Oh ja – das hat es wirklich – und wie“, gestand der junge
Zivilbeamte mit zitternder Stimme, griff nach seinem iPhone und rief den jungen
Mann an, um für morgen Abend ein Date mit ihm zu vereinbaren, welches dieser
sofort zusagte.
„Na dann herzlichen Glückwunsch Alter und jetzt lass uns endlich
shoppen fahren. Die Weihnachtseinkäufe wollen ja auch erledigt werden. Und
keine Angst, wir werden deinen Kollegen ganz bestimmt nichts davon sagen. Aber
dafür erzählst du uns dann, wie es gelaufen ist und – wir wollen jede schmutzige Einzelheit hören“,
sonderte Raphael breit grinsend ab, während Johannes und Malte eifrig nickten.
*****
Ragnar wirkte nach dem Gespräch mit den drei Teenagern wie
ausgewechselt. Und so half er ihnen später nicht nur beim Reintagen ihrer
Einkäufe. Er wollte einfach mehr über den Neunzehnjährigen erfahren, in den er
sich verliebt hatte.
„Also du brauchst dir wirklich keinen Kopp zu machen, Livi
trägt die Frauenklamotten nur, wenn er für Auftritte als Dragqueen gebucht
wurde oder aber in seiner ehemaligen Heimatstadt Oldenburg, Besucher durch die
Szene führt, obwohl er dort seit einem Jahr gar nicht mehr wohnt.“ So erfuhr
der 26jährige Blondschopf auch, dass Livi (Oliver), wie der Neunzehnjährige von
seinen engsten Freunden genannt wurde, vor einem Jahr mit seinem damaligen
Freund Schluss gemacht hatte, weil dieser, mehrfach fremd gegangen war und ihn
verprügelt hatte, als er ihn zur Rede stellen wollte. „Er hat jetzt eine nette
kleine Wohnung in Sande“, verriet Johannes, den mit Oliver nicht nur die
Verwandtschaft mütterlicherseits, sondern auch Freundschaft verband.
„Mit Livi konnte ich schon immer über alles reden. Er war
auch der Erste, mit dem ich über mein Schwulsein gesprochen habe, nachdem ich
es für mich festgestellt hatte, dass mich Jungs und ihre Anhängsel mehr
interessieren als Mädchen und ihre Hupen.“
*****
„Ich bin stolz auf dich Hasi, du solltest dir wirklich
überlegen später nach dem Abi Psychologie zu studieren“, lobte Raphael seine
Freund später, als sie eng aneinander gekuschelt in dessen Bett lagen. Malte
war, kaum das er es sich auf der Schlafcouch gemütlich gemacht hatte,
eingeschlafen und schnorchelte leise vor sich hin.
„Danke sehr Schatz, schaun wir mal gelle?“, antwortete der
Sechzehnjährige leise, bevor er seinem Freund zärtlich ins Ohr biss und damit
das Gespräch für beendet erklärte, um dass zu machen, was verliebte Jungs eben
so tun, wenn die Gehirntätigkeit sich auf ein Minimum reduzierte, weil
bestimmte Körperteile ebenfalls Ansprüche auf Zärtlichkeiten anmeldeten. Diese
war ja seit der Explosion im Unterstand nicht mehr zu ihrem Recht gekommen.
Dementsprechend groß war auch der Nachholbedarf, mit dem Johannes und Raphael
das Wort Leidenschaft buchstabierten, bevor auch sie ins Land der Träume
entrückten.
*****
In den folgenden Tagen blieb es soweit ruhig, Ragnar hatte
sich zwischenzeitlich mit Oliver getroffen und im Kino waren sie sich nähergekommen
und haben von dem Film gar nichts mitbekommen, weil ihre Lippen und Zungen
ständig aneinander klebten.
Der Privatunterricht war ebenfalls angelaufen, dieser wurde
aus ‚organisatorischen‘ Gründen (auf Drängen unserer drei Freunde) in das
Elternhaus von Laurin verlegt, damit auch er eine Chance hatte, seinen
Rückstand, bis zum Beginn der Weihnachtsferien, zumindest ein wenig wieder
aufholen zu können. „Ob Sie jetzt drei oder vier Schüler unterrichten, macht ja
wohl keinen großen Unterschied“, argumentierten die drei Teenager und gaben
nicht eher Ruhe, bis die Lehramtsanwärter sich damit einverstanden erklärten.
Da der mittlerweile fast sechzehnjährige Laurin in der Klasse 10c am
Mariengymnasium war, gab es vom Unterrichtsstoff her auch keine Probleme. Im
Gegenteil, er genoss es gemeinsam mit seinen Freunden zu lernen und in den
Pausen wurde der übliche Klatsch und Tratsch ausgetauscht.
„Aaron besucht mich jetzt wieder jeden Tag, das finde ich so
lieb von ihm. Er hat übrigens nicht nur seinen ‚Stiefvater’, sondern auch
Richard Wagner angezeigt. Wusstet ihr, dass der Drecksack ihn mehrfach sexuell
zu nötigen versucht hat nach Unterrichtsschluss?“ Dies wussten unsere drei Freunde
in der Tat noch nicht. Sicher es war ihnen hin und wieder aufgefallen, dass
Aaron nicht immer gleich mit in die Pause ging, wenn sie beim ‚Opern Dino‘
Unterricht hatten, aber irgendwie hatte es Jo und Raffi auch vorher nicht
wirklich interessiert. Jetzt wo sie ihn genauer kennengelernt hatten und wussten,
was mit ihm los gewesen war, machten sie sich allerdings Vorwürfe, dass sie
sich nicht früher um ihn bemüht hatten.
„Krass – sag mal hat er denn jetzt therapeutische
Unterstützung, um die ganze Scheiße verarbeiten zu können?“
„Ja“, antwortete der Halbasiate, „meine Ma ist
Diplompsychologin und die hilft ihm jetzt dabei. Jedenfalls merke ich, dass im
das richtig gut tut und er macht bereits erste Fortschritte.“ Man konnte Laurin
anmerken, wie erleichtert er darüber war, dass es seinem Freund langsam wieder
besser ging. Die Art wie über den Sechzehnjährigen sprach, ließ unsere drei
Freunde hellhörig werden. Besonders weil Laurins Augen immer ganz besonders
glänzten, wenn er von Aaron erzählte, war das etwa mehr, als nur Freundschaft?
Könnte es am Ende sogar so sein, dass Laurin unglücklich in ihn verliebt war?
„Du sag mal Laurin, du musst die Frage jetzt nicht
beantworten, aber kann es sein, dass du mehr für Aaron empfindest?“ Es war
jetzt nur ein Verdacht, den Malte hegte. Aber in der Tat war es so, dass er
bereits als sie noch in der Klinik lagen mitbekam, dass sich Laurins Verhalten
immer dann spürbar veränderte, sobald Aaron in seine Nähe kam. Er warf ihm
jedes Mal schmachtende Blicke zu, wenn dieser es nicht mitbekam und er wirkte
immer beinahe traurig, wenn die Besuchszeit endete und sein bester Freund das
Zimmer und die Klinik verlassen musste.
„Um ehrlich zu sein – ja, ich bin ein bisschen in Aaron
verliebt. Aber das geht schon voll lange so und ich getrau mich einfach nicht
es ihm zu sagen“, gestand der kleine Halbasiate mit hochrotem Kopf. „Ich hab
auch Angst, dass unsere Freundschaft kaputt geht, wenn ich ihm erzähle, wie ich
wirklich für ihn fühle.“
Das er mit seiner Frage den Finger mitten in eine klaffende
Wunde legen oder wie der Volksmund sagt, in ein Wespennest stechen würde, dass
hatte Malte nun wirklich nicht gewollt. Den jungen Mann mit seinen sonst immer
lachenden Augen weinen zu sehen, tat dem Rotschopf unheimlich weh. Das hatte er
nicht gewollt, deshalb breitete er seine Arme aus und bot dem jungen Mann seine
starke Schulter zum ausheulen an.
„Psssst – isses so schlimm?“, fragte er und kraulte dem
Halbasiaten zärtlich den Nacken.
„Das tut jedes Mal so unglaublich weh, wenn ich ihn mit einem
Mädchen im Arm sehe“, schluchzte Laurin leise vor sich hin.
„Das glaub ich dir, aber ich bin mir ganz sicher, dass du
auch irgendwann den richtigen für dich finden wirst“, flüsterte Malte dem
jungen Mann ins Ohr.
„Will aber keinen anderen – will meinen Aaron“, antwortete
er beinahe trotzig was in diesem Augenblick so kindisch klang, das Laurin
Peters selber darüber lachen musste. „Hach danke – das tat mal richtig gut, die
Seele nackig zu machen“, sagte er Minuten später und meinte es auch so. Denn in
der Tat war es jetzt das erste Mal, dass er offen über Sexualität und seine Gefühle
für gesprochen hatte.
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